Seelenfeuer
zeigen.
Der Duft erreichte Mera, noch ehe sie das Geschenk berührte. Myrrhe. Ein wundertätiger Balsam, den sie sich nie hatte leisten können und den sie so gut gebrauchen konnte. Mera war von Dankbarkeit überwältigt.
Doch während Selene ihr aufgeregt erklärte, daß dies der Arzt sei, von dem sie ihr erzählt hatte, während sie glücklich lachend fragte, ob das nicht ein wunderbarer Zufall sei, wandelte sich ihre Freude in Beunruhigung. Sie sah Selenes glühende Wangen, bemerkte die strahlenden Augen, den plötzlich so unbefangenen Redefluß ihrer Tochter und erkannte, was geschehen war.
Selene hatte sich verliebt.
Ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, zogen die Gäste sie von ihrer Tochter und dem gefährlichen Fremden weg, die Bäckersfrau nahm sie bei einem Arm, die alte Witwe beim anderen, und beide redeten auf sie ein, um ihr zu versichern, was für ein großer Tag dies sei und wie stolz sie sein könne. Mera nickte zerstreut und dankte ihnen, während sie zwischen Köpfen hindurch nach Selene spähte, die mit unmißverständlichem Blick zu dem jungen Arzt aufsah.
Immer ausgelassener wurde das Fest. Man eilte davon, um frische Speisen und mehr Wein herbeizuschaffen. Musikanten fanden sich ein und spielten auf Harfen und Flöten Melodien, die im allgemeinen Lärmen und Lachen kaum zu hören waren. Jeder kämpfte um einen Platz in der Nähe des glanzvollen Fremden; Ester und Almah flirteten mit ihm. Bis schließlich, als die Sonne sich zum westlichen Horizont neigte, der Augenblick kam, an dem Selene ihre Gäste verlassen mußte, um das Frauengewand anzulegen und sich für die eigentliche Zeremonie bereitzumachen.
Da es im Haus keinen zweiten Raum gab, führte Mera ihre Tochter aufs Dach hinauf, wo sie im Sommer zu kochen und zu schlafen pflegten und wo eine Laube aus Rosmarin Selene vor den Augen Neugieriger schützte, wenn sie sich nun umkleidete.
Mutter und Tochter standen im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Von fernen Dächern stiegen die Rauchfahnen von Kochfeuern auf und breiteten einen feinen grauen Schleier über die Stadt. Nur die hohen Tempelbauten durchstießen den Dunst und leuchteten wie verzaubert im klaren Schein der Abendsonne.
Selene konnte kaum stillstehen, während ihre Mutter sie ankleidete. »Ist er nicht w-w-«, versuchte sie zu sagen, als Mera ihr das abgetragene alte Kleid über den Kopf zog. »Ist Andreas n-nicht …«
Sie wusch sich in einer Schüssel frischen Wassers und legte dann ein neues Hemd an. Mera nahm schweigend die pflaumenblaue Stola aus ihrem Kasten. Von unten hörten sie das Lärmen der Gäste. Alle warteten auf Selenes Erscheinen.
Mera war hin und her gerissen. Auf der einen Seite war sie froh und dankbar, daß Selenes Fest so gelungen war; andererseits jedoch brachte ihr der Urheber des Erfolgs, Andreas, neue Sorge.
In acht Tagen war Vollmond. Diese Nacht würden Mera und Selene in den naheliegenden Bergen verbringen, in einem einsamen Lager, wo sie fasten, beten und mit der Göttin Zwiesprache halten würden. Dort, in der Wildnis, würde Selene zur Heilerin geweiht werden. Und dort würde Mera ihr die Wahrheit über ihre Herkunft sagen; die Elfenbeinrose würde geöffnet werden, so daß Selene sich nun selber auf die Suche nach ihren Wurzeln begeben konnte.
Bis zu diesem Nachmittag war alles nach Plan gegangen.
Diese vergangenen zwanzig Tage waren ganz dem Lehren und Lernen gewidmet gewesen. Mera hatte sich beeilt, all ihr irdisches Wissen an ihre Tochter weiterzugeben. In acht Tagen würde sie auch des geistigen Wissens teilhaftig werden, und dann, hatte Mera gehofft, würde sie nach Erfüllung ihrer Aufgabe in Frieden sterben können. Doch nun war plötzlich ein Hindernis aufgetaucht. Gerade in diesem entscheidenden und kostbaren Augenblick ihres Lebens hatte Selene sich verliebt.
»Du mußt heute abend an anderes denken, Selene«, sagte Mera, während sie Selene in die Stola half. »Du mußt an den Ernst dieses Tages denken. Du bist nun kein Mädchen mehr, Selene. Sondern eine Frau. Und keine gewöhnliche Frau, sondern eine Heilerin, die kein gewöhnliches Leben führen kann. Du mußt an deine zukünftigen Pflichten denken, Selene.«
»Ich w-will aber n-nur an an Andreas d-denken!«
Mera preßte die Lippen aufeinander. Vor zwanzig Tagen hatte sie um Erlaubnis ersucht, die Seherin im Tempel befragen zu dürfen. Sie mußte wissen, was in den Sternen ihrer Tochter geschrieben stand. Sie mußte Selenes Zukunft wissen, ehe sie starb.
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