Seelenfeuer
Aber man hatte ihr gesagt, sie solle in siebenundzwanzig Tagen wiederkommen. Sie hatte den Tempelwächter angefleht, sie vorzulassen, doch es hatte nichts gefruchtet. Den Zeitpunkt der Orakelbefragung wählte man nicht selbst.
Schmerz durchzuckte Meras Körper. Sie biß die Zähne aufeinander. Aber Selene hatte nichts bemerkt, wußte nicht, daß ihre Mutter dem Tod nahe war.
Als die Stola über ihren Kopf glitt und mit streichelnder Berührung an ihrem Körper herabfiel, wurde Selene still. Nie hatte so edler Stoff ihre Haut berührt. Der Saum, auf dem blaßblaue Blüten tanzten, berührte knapp den Boden. Die Ärmel, weit und fließend, an der äußeren Naht offen und nur stellenweise gerafft, wehten wie ein sanfter Hauch um ihre Arme. Sie schlang die Kordel aus blaugefärbtem Hanf um ihre Mitte und band sie, zwischen ihren Brüsten gekreuzt nach oben.
Zum Schluß legte Mera ihr die Elfenbeinrose um den Hals. Leuchtend lag sie auf dem tiefen Blau der Stola, jedes Detail der fein geschnitzten Blütenblätter scharf gezeichnet. Der Rücken der Rose war vor langer Zeit mit Ton versiegelt worden; nur einmal würde der Verschluß geöffnet werden. An dem Tag, wenn Selene und ihre Mutter zum Berg Silpius hinaufstiegen, der auf Antiochien herabschaute.
Zuletzt bürstete Mera Selenes langes schwarzes Haar, das sie an diesem Tag zum letztenmal offen trug. Danach trat sie zurück, um ihre Tochter zu betrachten. Tiefe Trauer überkam sie einen Moment lang.
Du bist zu mir gekommen in meiner Kinderlosigkeit und in meiner Einsamkeit, dachte Mera, und die Tränen schossen ihr in die Augen. Unsere gemeinsame Zeit war kurz, liebste Tochter, aber ich bereue nicht einen Augenblick dieser sechzehn Jahre.
Blitzartig erschien das Gesicht des sterbenden Römers vor Mera, so lebendig, als stünde der Mann vor ihr. Sie kommt von den Göttern, sagte er. Der Ring wird ihr alles sagen. Er wird sie zu dem führen, was ihr bestimmt ist.
Mera wollte die Vision festhalten, wollte rufen, wer bist du? Doch das Gesicht zerfloß im dunstigen Abendlicht.
Die Gäste verstummten, als Mera endlich an der Hintertür erschien. Alle drehten sich um, Selenes Eintritt zu erwarten.
Manch einem stockte der Atem, als Selene ins Zimmer trat. Ester und Almah, die neben Andreas standen, rissen die Augen auf, als sie die blaue Stola sahen. Wo hatte Selenes Mutter dieses Gewand gefunden? Wie hatte sie es bezahlen können? Und beide dachten: Meine war nicht mit Blumen bestickt …
Selene trat zögernd ein, ein scheues Lächeln auf den Lippen, die Augen niedergeschlagen. Mera sah die Gesichter der Gäste, und wieder stiegen die Tränen auf. Jetzt endlich sahen sie ihre Tochter so, wie sie wirklich war, eine schöne, reine Seele. Diese Leute, die Selene wegen ihrer unbeholfenen Rede verachtet, die Mera gewarnt hatten, daß ihre Tochter niemals eine gute Heirat machen würde, all diese Leute, die jahrelang ihre Tochter kaum beachteten – jetzt brauchte man nur ihre Gesichter zu sehen!
Dann glitt Meras Blick zu Andreas, und ihre Freude zerstob. Sie hatte in ihrem Leben genug Männer gekannt, um den Ausdruck auf seinem Gesicht richtig zu deuten, und sie bekam Angst. Sie durfte nicht zulassen, daß Andreas sich Selene näherte …
Einen Moment war die Szene in Stille gefroren, dann trat Mera zu ihrer Tochter und umarmte und küßte sie. Die Gäste klatschten und riefen ihnen Glückwünsche zu. Über Meras Schulter hinweg sah Selene nach Andreas. Stumm und reglos stand er da und sah Selene mit brennendem Blick an. Kein Lächeln lag auf seinen Zügen. Die dunklen Augen unter den zusammengezogenen Brauen hatten den grüblerischen Ausdruck, den sie kannte.
Mera ließ ihre Tochter los und wischte sich die Tränen von den Wangen. Dann holte sie von einem Bord das Messer, mit dem sie Selene die Haarsträhne zum Opfer der Hausgötter abschneiden wollte. Doch als sie das Messer hob und ansetzte, die traditionellen Begleitworte zu sprechen, trat Andreas vor.
»Es ist Brauch, daß die Brüder diese Pflicht übernehmen«, sagte er und streckte die offene Hand aus.
Mera sah ihn überrascht an, dann legte sie unsicher das Messer in seine Hand.
Andreas trat dicht an Selene heran und sagte leise: »Betrachte mich für diesen Augenblick als deinen Bruder.«
Als seine Hände ihr Haar berührten, schloß Selene die Augen, und Mera, die die schwarze Locke in die Hand des jungen Mannes fallen sah, dachte: Er nimmt sie mir.
Nachdem Selene die Locke auf dem kleinen Hausaltar
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