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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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niedergelegt hatte, begannen die Musikanten wieder zu spielen, der Wein begann von neuem zu fließen, Stimmengewirr und Gelächter erfüllten die heiße Sommernacht.
    Selene trat vom Schrein weg. Sie konnte Andreas nicht in die Augen sehen. Ihr war, als wäre sie im Traum, als müßte sie jeden Moment zu rauher Morgenluft und bitterer Enttäuschung erwachen.
    Jemand holte einen Stuhl, und Selene ließ sich feierlich auf ihm nieder. Ihre Mutter brachte Kämme und Haarnadeln für das letzte Ritual, das Hochstecken von Selenes Haar nach Frauenart.
    Ester und Almah, die sehr darauf bedacht waren, die Aufmerksamkeit des vornehmen Herrn auf sich zu ziehen, bestanden darauf, diese Aufgabe zu übernehmen, die traditionsgemäß Sache der Schwestern war. Wieder trat Mera zurück und überließ ihre Tochter den Handreichungen Fremder; und wieder beobachtete sie heimlich Andreas.
    Er wird sie mir nehmen, dachte sie. Er wird sie der Göttin und ihrer Bestimmung abtrünnig machen. Dieses Kind wurde mir anvertraut. Die Götter erwählten mich zu ihrer Hüterin. Sie hat ihnen gegenüber eine Pflicht; sie muß sich auf die Suche machen, um herauszufinden, wer sie ist. Und nichts, niemand darf sie davon abhalten.
    In sieben Tagen, tröstete sich Mera, wird mir das Orakel sagen, was zu tun ist …
    Als Ester und Almah zurücktraten, lobten alle ihr Werk. Es war eine schlichte Haartracht. Nun waren alle Rituale abgeschlossen, und Selene wurde von den Nachbarn als erwachsene Frau aufgenommen.
    Selene thronte mit glühenden Wangen und glänzenden Augen wie eine Königin auf ihrem Stuhl. Sie hatte ein Gefühl, als wäre sie aus ihrem Körper herausgetreten und stünde neben der jungen Frau mit dem kunstvoll aufgesteckten Haar, die da in ihrer Stola, auf deren tiefem Blau die weiße Rose wie ein Stern leuchtete, Mittelpunkt der Festsfreude war.
    Erst als Mera ihren Arm berührte und leise sagte: »Du mußt jetzt ein paar Worte sprechen, Selene, und allen eine gute Nacht wünschen«, fand sie in die Wirklichkeit zurück.
    Entsetzt sah sie ihre Mutter an. Ein paar Worte sprechen? Vor all diesen Leuten?
    »Nur ein paar Worte des Dankes«, sagte Mera.
    »A-aber –«
    »Selene«, sagte Mera leise, aber bestimmt. »Steh jetzt auf und bedanke dich.«
    »I-ich kann n-nicht«, flüsterte Selene.
    Da war plötzlich Andreas bei ihr. »Sie braucht frische Luft«, erklärte er Mera. »Sie braucht einen Augenblick Ruhe von dem Lärm und der Aufregung.« Er bot Selene die Hand, und diese ergriff sie dankbar. Nur wenige sahen die beiden hinausgehen – Almah und Ester, die wissende Blicke tauschten, und Mera, die allein zurückblieb.
    Selene und Andreas stiegen zum Dach hinauf, das wie eine Insel des Friedens unter den schimmernden Sternen lag.
    »Selene«, sagte Andreas, »hab keine Angst. Du kannst zu ihnen sprechen!«
    »A-aber ich k-k-k-«
    »Warte«, sagte er. Er sah ihr in die erwartungsvollen Augen und wunderte sich über sich selbst. Es war Jahre her, daß er sich das letztemal einem anderen Menschen geöffnet hatte, und er war dabei so tief und bitter verletzt worden, daß er nie wieder jemandem Zugang zu seinem Herzen gegeben hatte. Er hatte sich allen Gefühlen verschlossen, weil er meinte, noch eine solche Verletzung würde ihn vernichten. Und nun stand er hier oben auf dem Dach eines ärmlichen Hauses und legte behutsam seine Hände um das Gesicht dieses scheuen Mädchens, das er kaum kannte, und sagte: »Ich weiß, daß du zu ihnen sprechen kannst, Selene.«
    »W-wie?« fragte sie.
    »Du besitzt die Fähigkeit, andere zu heilen; nun mußt du dich selbst heilen. Erinnere dich an den Anfall des Teppichhändlers.«
    »Ja?«
    »Setze diese Kraft für dich selbst ein.«
    Sie sah ihn groß an. Sie hatte nie daran gedacht, das zu versuchen. »A-aber w-wie?« fragte sie.
    »Immer, wenn du zu sprechen versuchst, konzentrierst du dich auf die Worte, und gerade weil du das tust, gerätst du ins Stottern. Du strengst dich zu sehr an. Denk nicht an das, was du sagen willst, sondern konzentriere dich auf etwas anderes. Dann kommen die Worte ganz von selbst. Nimm die Menschen wahr, mit denen du sprichst, Selene, aber richte dein inneres Auge nicht auf sie. Stell dich neben dich. Was hast du an dem Tag bei dem Teppichhändler gesehen? Eine Flamme, nicht wahr? Stell dir diese Flamme vor, konzentriere dich auf sie und nichts anderes, und dann sprich.«
    Selene sah ihm wie gebannt in die Augen. Genau so hatte Mera mit ihr gesprochen, als sie sie vor Jahren

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