Seelenfeuer
dieses uralte Verfahren gelehrt hatte. Beschwöre die Seelenflamme herauf, richte dein ganzes Sein auf sie.
»Stell sie dir jetzt vor«, sagte er leise.
Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Sie sah die Flamme und wurde ruhig. Selene öffnete den Mund und sagte: »Ich will es versuchen, Andreas. Für dich will ich es versuchen.«
Zur Beschließung der Feier drängten sich alle ins Haus. Sie waren so still, daß der Herold, der auf der anderen Seite der Stadt die zweite Nachtwache ausrief, zu hören war. Selene sah ihre Gäste an und sprach ruhig und ohne zu stottern. Sie dankte ihnen, nannte jeden beim Namen und segnete sie zum Schluß. Als sie geendet hatte, rührte sich niemand. Stumm und still standen alle.
Dann begannen die ersten sich langsam zu regen, als erwachten sie aus einem Zauberschlaf, und die anderen taten es ihnen nach. Die Gäste verabschiedeten sich, nahmen ihre Umhänge und gingen in die Nacht hinaus.
Ester sagte: »Selene, ich webe gerade ein neues Muster. Ich würde gern wissen, wie du es findest.« Und Almah sagte: »Darf ich dich einmal besuchen, Selene?«
Als die Bäckersfrau gute Nacht wünschte, lag ein ganz neuer Ausdruck auf ihrem Gesicht, und ein hübscher junger Mann, der Sohn des Olivenhändlers, fragte Selene schüchtern, ob er sie einmal zu einem Spaziergang einladen dürfe.
Andreas ging als letzter, nachdem er Mera noch einmal für ihre Hilfe gedankt und Selene nochmals gratuliert hatte. Und als er ging, dachte er an die lange Nacht, die auf ihn wartete. Er wußte, daß er nicht schlafen würde.
7
»Dein Tod ist nahe, meine Tochter«, sagte die Seherin.
Mera neigte den Kopf. »Ja, Mutter, ich weiß.«
»Und deine Tochter weiß nichts davon?«
»Nein.«
Tiefe Weisheit schimmerte in den alten Augen der Seherin. »Warum hast du deiner Tochter nicht gesagt, daß du stirbst?«
»Ich wollte alle Sorge und Angst von ihr fernhalten, damit ihr Geist und ihre Seele frei sind am Tag der Einweihung in die Mysterien der Göttin.«
Die Seherin nickte und wandte sich von Mera ab, um aus dem Fenster in den Tempelvorhof hinauszuschauen. Es war ein grauer, bewölkter Tag, typisch für den Monat August. In der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen. Einige Bittsteller schritten durch den Hof, um der Göttin ihre Gaben zu bringen. Ein heiliger Stein stand in der Mitte des Hofs, ein gewaltiger Block, von dem es hieß, er wäre einst von der Göttin selbst berührt worden. Mütter brachten ihre Kinder hierher und schlugen ihnen die Köpfe an den Stein, in der Hoffnung, ihnen Vernunft einzubleuen.
Die Seherin richtete den Blick wieder auf Mera. »Wann wird sie eingeweiht?«
»Morgen. Wir gehen ins Gebirge hinauf.«
Die Seherin nickte beifällig. Diese Heilerin war eine fromme und treue Tochter der Göttin. Hoch oben in der reinen, dünnen Luft der Berge, die Antiochien bewachten, würde sie ihre eigene Tochter der Großen Mutter verbinden.
»Ist sie bereit?« fragte die Seherin.
Mera hob den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Sie war eine alte Frau, klein und von zartem Äußeren, eingehüllt in schwarze Gewänder und einen schwarzen Schleier. Mera fühlte sich unbedeutend vor ihr; die alten Frauen, die das Haus der Göttin versorgten, geboten über ungeheure Macht. Wie die Priesterinnen der Minerva und der Sophia waren die Frauen, die der Isis dienten, in jenem Lebensalter, wo der Mondfluß versiegt ist, und das gestattete ihnen, ihre ganze Mondweisheit in sich zu bewahren.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mera leise auf die Frage der Seherin. »Sie müßte bereit sein. Ich habe sie gut gelehrt und vorbereitet, aber …«
Die Seherin wartete.
»Aber jetzt ist ein Mann aufgetaucht.«
»Du weißt, daß deine Tochter rein und unberührt in die Einweihung gehen muß.«
»Ich habe ihr verboten, ihn zu sehen.«
»Gehorcht sie?«
Mera rang die Hände. Nein, dachte sie. Sechzehn Jahre lang war Selene eine gute und gehorsame Tochter. Aber jetzt schleicht sie sich heimlich davon und läuft zu dem Haus in der Oberstadt.
»Kennt sie die Gefahr?« fragte die Seherin, als hätte sie Meras Gedanken gelesen.
»Ich habe sie gewarnt. Am Abend der Einkleidung vor sieben Tagen, als wir allein waren, habe ich sie belehrt. Aber sie glaubt diesen Mann zu lieben, Mutter. Ihre Gedanken schweifen von meinen Lehren ab. Sie denkt nur noch an ihn, spricht nur von ihm …«
Die Seherin hielt ihre Hand hoch. »Deine Tochter ist kein gewöhnliches Kind«, sagte sie. »Eine Bestimmung
Weitere Kostenlose Bücher