Seelenfeuer
erwartet sie. Du hast mir gesagt, daß sie von den Göttern gekommen ist und deiner Obhut anvertraut wurde. Fürchte dich nicht, meine Tochter, die Göttin wird sie lenken und leiten.« Die Seherin hielt inne und sah Mera forschend ins Gesicht. »Das ist nicht alles«, sagte sie dann. »Dieser Mann macht dir angst. Warum?«
»Weil er meine Tochter auf Abwege führt und sie der wahren Lehre entfremdet. Er ist ein
Chirurg
, Mutter. Er übt eine schreckliche Art der Heilkunst aus. Ohne die Hilfe der Göttin zu erbitten, ohne das heilige Feuer anzuzünden, ohne Gebete. Er ist gefährlich, Mutter. Er wird alles zerstören, was ich ihr nahezubringen versucht habe.« Mera senkte die Stimme. »Nicht die Unschuld ihres Körpers ist in Gefahr, Mutter, sondern die Unschuld ihrer Seele.«
Die Seherin hüllte sich in Schweigen.
»Was soll ich tun?« Mera beugte sich vor. »Kannst du mir sagen, was in den Sternen geschrieben steht?«
Die Seherin sagte: »Unter welchen Sternen ist sie geboren?«
»Sie wurde im Zeichen des Löwen geboren mit aufsteigender Venus im Zeichen der Jungfrau.«
»Um welche Stunde?«
»Ich – das weiß ich nicht, Mutter. Es war eine überstürzte Geburt. Ihre Eltern waren Flüchtlinge.«
»Du weißt, daß wir den wahren Aszendenten wissen müssen, Tochter. Mehrere Planeten können in ihrem ersten Haus stehen. Wir müssen wissen, welcher der Aszendentenachse am nächsten steht.«
Das wußte Mera bereits. Sie hatte im Verlauf der vergangenen sechzehn Jahre immer wieder versucht, Selenes Sterne deuten zu lassen, aber vergeblich.
»Aber das ist noch immer nicht alles«, bemerkte die Seherin. »Sage mir, was du mir bis jetzt verschwiegen hast.«
»Unmittelbar vor Selene wurde ihr Zwillingsbruder geboren. Die Eltern nannten ihn Helios.«
Die Seherin zog die dünnen Brauen hoch. »Helios und Selene? Sonne und Mond?« Die Augen der Priesterin schienen sich nach innen zu richten, während sie nachdachte. »Das Mädchen muß seinen Bruder finden«, sagte sie dann, »denn er ist ihre andere Hälfte. Es ist von lebenswichtiger Bedeutung, daß sie mit ihm vereint wird. Weißt du, wo er ist?«
Mera schüttelte den Kopf.
»Gib mir jetzt die Haarsträhne.«
Mera hatte die Locke, die Andreas Selene abgeschnitten hatte, aus dem Schrein der Isis genommen und legte sie jetzt der Seherin in die Hände.
Lange saß die Dienerin der Isis stumm in den Schatten der von Weihrauch durchzogenen Kammer, ehe sie wieder sprach. »Sechzehn Jahre lang«, sagte sie dann, »hast du dieses Kind genährt. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du sie freigeben und sie ihren eigenen Weg gehen lassen mußt.«
Mera wartete. Als die Seherin stumm blieb, beugte sie sich von Angst und Sorge getrieben vor und sagte: »Kannst du mir nicht sagen, wer sie ist, bevor ich sterbe, Mutter?«
»Das kann ich nicht. Das muß das Mädchen selbst herausfinden. Es ist die Bestimmung ihres Lebens. Aber ihr Weg beginnt nicht hier in Antiochien. Du mußt sie dorthin zurückbringen, wo ihr Leben begann, an den Ort ihrer Geburt. Von dort wird die Göttin sie weiterführen.«
Mera starrte die Seherin ungläubig an. Sie zurückbringen? Nach Palmyra?
»Aber Mutter«, sagte sie zaghaft. »Das ist eine sehr weite Reise. Es wäre große Mühsal für mich.«
»So muß es sein, Tochter. Du wirst Palmyra nicht wiedersehen, aber du mußt das Mädchen in die Wüste dort hinausbringen, damit sie beginnt, nach der wahren Straße zu suchen, die sie zu ihrer Bestimmung führen wird. Ihr werdet noch heute abend aufbrechen. Der Mond ist voll, das ist die günstigste Zeit«, sagte die Seherin. »Der Mond wird euch leiten.«
Mera war wie betäubt. Sprachlos sah sie zu, wie die Priesterin langsam von ihrem Stuhl aufstand und mit alterskrummem Rücken zu einer verschlossenen Nische in der Wand trat. Sie entnahm der Nische einen Gegenstand, den sie vor Mera auf den Tisch legte. »Gib das deiner Tochter«, sagte sie. »Es wird ihr eines Tages das Leben retten.«
Es war ein Schwefelbrocken, wie man ihn in Krankenzimmern anzuzünden pflegte, um die bösen Geister zu vertreiben. Konnte das bedeuten, fragte sich Mera, daß in Selenes Zukunft eine furchtbare Krankheit wartete?
»Das ist alles, was ich für dich tun kann, Tochter«, sagte die Seherin und ließ sich unter Mühen wieder auf ihrem Stuhl nieder. »Du hast noch viel zu tun, wenn du der Göttin gehorchen und noch heute abend Antiochien mit deiner Tochter verlassen willst. Brecht bei Mondesaufgang auf.«
8
»Primum
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