Seelenfeuer
non nocere«,
sagte Andreas leise, während er dem Patienten die betäubende Salbe ins Ohr rieb. »Das heißt, vor allem keinen Schaden tun, Selene. Es ist die wichtigste Regel aller Ärzte.«
Schläfrig lag der Patient auf dem Bett in Andreas’ Behandlungsraum. Man hatte ihm das Haar rund um das Ohr geschoren, sein Kopf lag seitlich gewendet. Im Licht der Sommersonne, das durch das Fenster strömte, konnte Selene deutlich die Deformierung des Ohrläppchens sehen.
Der Mann war ein ehemaliger Sklave, dem die Freiheit gegeben worden war. Er hatte Andreas seinen Freilassungsbrief gebracht, um zu beweisen, daß er berechtigt war, sein Ohrläppchen wiederherstellen zu lassen.
Das durchbohrte Ohr war das Zeichen des Sklaventums. Im allgemeinen wurde die Perforation mit einer Ahle auf dem Sklavenmarkt vorgenommen, wenn der Sklave noch jung war, und durch das Einhängen des schweren Rings kam es dann zu einer häßlichen Verformung des Ohrläppchens, an der selbst nach seiner Befreiung der ehemalige Sklave noch zu erkennen war. Andreas gehörte zu den wenigen Ärzten, die die Kunst beherrschten, derart deformierten Ohren ihre natürliche Gestalt wiederzugeben. Und an diesem Morgen zeigte er Selene, wie das gemacht wurde.
Sie stand dicht an seiner Seite, und als sie das Skalpell ergriff, legte er es ihr richtig in die Hand. »Zuerst schneidest du hier«, sagte er und führte ihr die Hand. Sobald das Ohrläppchen durchtrennt war, stillte Andreas die Blutung mit einem heißen Ätzstift. »Denk jetzt daran, was ich dir gesagt habe. Die Wundränder müssen offen und sauber sein, sonst wachsen sie nicht zusammen.«
Selenes Hand war ruhig, als sie die Wundränder abrieb. Sie schöpfte die Ruhe aus der Nähe Andreas’, und aus dem Bild ihrer Seelenflamme, das klar vor ihrem inneren Auge stand. Ihr Blick war scharfe Aufmerksamkeit, ihr Mund zusammengepreßt in gespannter Konzentration, und Andreas, der sie beobachtete, spürte, wie sein Herz ihm zu entgleiten drohte.
»Lehre mich, was du weißt«, hatte Selene zu ihm gesagt. Und diese beiden gewöhnlichen Worte, lehre mich, hatten die Mauern eingerissen.
»Jetzt ätze«, sagte Andreas und griff über ihre Hände hinweg, um das Blut abzuwischen. »Und jetzt die Naht.«
Sie nahm das gebogene Fischbein, an dessen Ende ein Seidenfaden befestigt war, und Andreas führte ihr beim Nähen die Hand.
»Die Ränder müssen genau übereinstimmen«, erklärte Andreas, »sonst wachsen sie nicht zusammen. Unser Patient möchte, daß niemand merkt, daß er einmal Sklave war; es ist unsere Pflicht, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.«
Erregung bemächtigte sich Selenes, wie immer, wenn sie sich dem Abschluß eines chirurgischen Eingriffs näherten. Zu Beginn einer Operation war sie immer nur verwirrt und verwundert, da sie nicht fähig war, das zu sehen, was Andreas offensichtlich sah – eine neue Form, makellos verheilt. Und während der Operation selbst, konzentrierte sie sich zu sehr, um an irgend etwas anderes denken zu können als das, was sie gerade tat. Doch am Ende, wenn sie mit Andreas’ Hilfe das Fleisch formte, und es vernähte wie ein Stück Stoff, konnte Selene endlich sehen, was Andreas schon vorher gesehen hatte, und das Wunder erregte sie immer wieder.
Als Andreas ihr an dem Morgen nach ihrer Einkleidungsfeier zum erstenmal gezeigt hatte, wie man ein Skalpell hielt und seine Hand um die ihre gelegt hatte, um sie zu führen, überkam Selene ganz überraschend das Gefühl, angekommen zu sein. Es fühlte sich so richtig an, das Messer zu halten, den Einschnitt zu machen und danach das verletzte Fleisch zusammenzufügen. Sie war überzeugt, daß in dieser Tätigkeit ihre Berufung lag.
Es gab keinen Zweifel für sie, daß sie an jenem magischen Abend vor sieben Tagen einen weit bedeutungsvolleren Schritt getan hatte als nur den vom Mädchen zur Frau. Andreas hatte ihr das Tor zu einer Welt aufgetan, deren Möglichkeiten zu helfen und zu heilen, weit über alles hinausgingen, was Mera sie gelehrt hatte. Alles, was diese neue Welt zu bieten hatte, wollte Selene lernen und mit dem vereinigen, was sie schon wußte und konnte.
»Jetzt den Rost«, sagte Andreas und reichte Selene die Speerspitze.
Während sie sorgsam den Kopf des befreiten Sklaven verband, hörte sie Andreas zu. »Wir lassen ihn jetzt schlafen, und dann kann er nach Hause gehen. In zwei Tagen soll er wiederkommen, damit wir den Verband wechseln können. Dann siehst du gleich nach, ob an dem Ohr eine Entzündung
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