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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Selene fest, würde er diese Stadt erreichen; darum mußte sie nach ihm Ausschau halten und bereit sein.
    Doch an diesem Tag konnte sie durch den strömenden Regen kaum etwas sehen; nur wenige schemenhafte Gestalten bewegten sich auf der Straße. Selene ließ ihren Blick über die Straßen schweifen, deren Windungen und Kreuzungen sie sich genau eingeprägt hatte, und sandte ihre Phantasie auf den Fluchtweg, den sie gewählt hatte. Ihre Gedanken eilten durch die schmalen, gewundenen Gassen, sprangen über Mauern und Zäune, rannten in die Wüste hinaus Andreas entgegen.
    Wo, dachte sie, mag Andreas jetzt sein? Sitzt er vielleicht schon hier unten, in der Straße mit den bunten Sonnendächern, an einem Feuer und wärmt sich die Hände?
    Sie spürte, wie der kalte Regen in ihre Seele einzudringen und ihre Zuversicht zu ertränken drohte, aber sie ließ es nicht zu. Sie beschwor das Bild ihrer Seelenflamme herauf, konzentrierte all ihre Energien darauf, sie zu nähren und zu speisen, damit sie klar und hell brennen konnte. Sie wußte, wenn sie sich der Verzweiflung ergab, war sie verloren. Sie mußte sich ihren Lebensmut bewahren, für Andreas und für Mera, deren Vermächtnis in der Stunde ihres Todes eine leidenschaftliche Kraft in Selene geweckt hatte.
    Du bist auserwählt …
    Ihr Blick war auf die Palmen gerichtet, die sich unter der Wucht des Sturmes neigten, aber sie sah sie nicht. Andere Bilder füllten ihr Auge: die Elfenbeinrose, ein goldener Ring, ein Zwillingsbruder mit Namen Helios. Andreas.
    Selene ließ die Eisenstäbe los und glitt zu Boden. Sie wanderte in der engen Zelle hin und her, um sich warmzuhalten.
    Sie war allein. Die anderen Mädchen waren nach und nach fortgebracht worden; die einen ins Sklavenhaus, die anderen, wie Samia, die Inderin, die in den kurzen Tagen gemeinsamer Gefangenschaft ihre Freundin geworden war, in den Harem des Königs. Und schließlich war Selene selbst aus dem großen, lichten Raum geholt und in diese elende Zelle geworfen worden.
    Seit drei Monaten fristete sie ihr kümmerliches Dasein in dieser Steinkammer, wußte nicht, wer die Menschen waren, die sie gefangenhielten; wußte nicht, wo sie sich befand, was das Schicksal für sie bereithielt. Nur eines wußte sie: Sie durfte nicht aufgeben. Sie mußte durchhalten, fliehen, den Weg zu Andreas und ihrer Bestimmung finden.
    Einziger Trost in der Finsternis war ihr das goldene Horusauge, das sie unter ihrem Gewand trug und das niemand entdeckt hatte. Ihr Medizinkasten war fort, ihre einzige greifbare Erinnerung an ihre Vergangenheit, ihre Mutter und an das, was sie gelernt hatte, die heilige Kunst des Heilens. Ohne ihn fühlte sie sich all dessen beraubt, was ihre Persönlichkeit und den Sinn ihres Daseins ausmachte. Aber wenn der Schmerz sie zu überwältigen drohte, brauchte Selene ihre Hand nur um das Horusauge zu legen und fühlte sogleich seine heilende Kraft. Andreas’ Geist lebte in der Kette.
    Hinter der Zellentür hörte sie plötzlich Schritte und unterbrach ihre rastlose Wanderung. Zitternd vor Kälte, beide Arme fest um ihren Oberkörper geschlagen, stand sie da und lauschte. Sie war voller Angst.
    War es wieder ihr Peiniger? Der Mann, der sie quälte und folterte. Selene wußte nie, wann er erscheinen würde; manchmal kam er morgens, manchmal mitten in der Nacht, und stets hatte er Fragen.
    »Was hat dieses Zeichen zu bedeuten?« fragte er dann vielleicht und hielt ihr einen Fetzen Papyrus unter die Nase. Oder: »Sag mir, was für ein Pulver das ist.«
    Selene wußte, worauf er es abgesehen hatte – auf ihre medizinischen Kenntnisse. Und sie wußte auch, daß nur ihre Kenntnisse sie am Leben erhielten, sie vor seinen furchtbaren Drohungen schützten.
    »Wenn du mir nicht zu meiner Zufriedenheit antwortest«, hatte er sie am ersten Tag ihres Aufenthalts in der Zelle gewarnt, »lasse ich dich in den Harem bringen. Dort wird der König dich nehmen, und wenn er deiner müde ist, kann jeder, der dich haben will, sich mit dir vergnügen. Du wirst alle meine Fragen beantworten, verstanden?«
    Diese Drohungen hatten sie in Angst und Entsetzen gestürzt. Die Vorstellung, von Männern mißbraucht, wie ein Gegenstand herumgereicht und schließlich weggeworfen zu werden, hatte sie zutiefst erschreckt und gleichzeitig mit Ekel erfüllt. Wie war es möglich, fragte sie sich verwirrt, daß derselbe Akt – die Vereinigung von Mann und Frau – zwei völlig entgegengesetzten Zielen dienen konnte?
    Sie sehnte sich nach der

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