Seelenfeuer
Hätte es jemand gewagt, ihr ins Gesicht zu schauen, insbesondere auf den großen Smaragd, der das blinde Auge verbarg, so wäre er dafür mit dem Tod bestraft worden, so groß war die Eitelkeit der Königin.
»Ich bin gekommen, dich zu fragen, was mit deinem königlichen Gemahl geschehen soll. Das Volk von Magna beginnt, unruhig zu werden. Man versteht seine Impotenz als böses Omen.«
Lasha antwortete nicht. In kostbare Seide gehüllt, mit Edelsteinen geschmückt, saß sie auf ihrem Thron, die Füße auf einem Kissen, und starrte in die düsteren Schatten, die ihrer zu spotten schienen.
»Ich bin gekommen, dich zu fragen, ob du vorhast, auch die letzte der Jungfrauen zu ihm zu bringen.«
Die Königin fuhr auf. »Was redest du da?« fragte sie.
»Ich spreche von dem letzten Mädchen – sie wird offenbar zu besonderem Zweck festgehalten.«
Jetzt sah Lasha die Priesterin direkt an, und diese senkte die Lider.
»Im Turm«, erläuterte die Priesterin. »Ein junges, sehr schönes Mädchen, dem Sonderbehandlung zuteil wird. Niemand darf sie sehen.«
»Woher weißt du das?«
Die Priesterin zuckte die Achseln. »Ich habe viele Freunde, meine Königin. Unter denen, die das Essen des Mädchens zubereiten, die bei Tag und Nacht ihre Zelle bewachen.«
Und ich habe Feinde, dachte sie im stillen, für deren Vernichtung ich sorgen werde. Sie neidete Kazlah seine große Macht und hoffte, mit dieser Information, die sie sich zu hohem Preis beschafft hatte, genau die Waffe gefunden zu haben, die sie brauchte, um ihn zu stürzen.
»Wer hat sie dort gefangengesetzt?« fragte die Königin.
»Kazlah, meine Königin.«
»Bring sie zu mir«, sagte Königin Lasha leise.
»Du wirst die Königin nicht ansehen«, sagte die Hohe Priesterin, als sie Selene mit ihrem Stab vorwärts stieß. »Wenn du der Königin ins Gesicht siehst, bist du des Todes. Halte also den Blick gesenkt.«
Selene ging an den vielen Hofleuten vorüber, die im Gang versammelt standen. Sie starrten das schmale, unnatürlich bleiche Mädchen an der Seite der Hohen Priesterin neugierig an. Ihr Gewand war schlicht, und sie war barfüßig; das lange schwarze Haar fiel ihr offen und schmucklos über die Schultern – zweifellos eine Gefangene –, aber eine Art ruhiger Würde ging von ihr aus.
Als sie das Gemach der Königin erreichten, verschlug es Selene einen Moment den Atem. Nie zuvor hatte sie einen so hohen Raum gesehen, nie zuvor so massige Säulen. Vor einem Thron wurde sie auf die Knie gestoßen.
»Wer bist du?« Die Stimme war scharf.
Selene starrte auf den Marmorboden und wollte sprechen. Aber ihre Zunge gehorchte ihr nicht.
»Sprich, Mädchen!«
»Selene«, antwortete sie.
Die Priesterin versetzte ihr einen Schlag. »Sag, ›meine Königin‹.«
»Selene, meine Königin.«
»Wer hält dich im Turm gefangen?« fragte Lasha und beugte sich in ihrem Thronsessel vor.
»Ich w-w –« Selene biß sich auf die Unterlippe.
»Was ist mit ihr?« fragte Lasha.
Die Priesterin schlug wieder zu. »Rede!«
Isis, ich bitte dich, betete Selene lautlos. Lockere meine Zunge. Wenn dies ein Zeichen der Götter ist, dann laß nicht zu, daß es mich in Gefahr bringt.
»Du wagst es, ungehorsam zu sein?« Lashas Stimme war eisig.
Selene versuchte es von neuem. »I-ich –«
»Spielst du mit mir? Sprich! Oder ich lasse dir die Zunge aus dem Mund reißen.«
Selene drückte die Augen zu und versuchte, das Bild ihrer Seelenflamme zu beschwören, aber ihre Angst war zu groß. Hinter ihren Lidern war nur Finsternis. Da hob sie eine Hand zu ihrer Brust und fühlte unter dem Stoff ihres Gewandes das Horusauge.
Plötzlich hörte sie Andreas’ gütige Stimme. Denk nicht an das, was du sagen willst, Selene. Konzentriere dich auf etwas andres. Dann kommen die Worte wie von selber.
Den Blick immer noch zum Marmorboden gesenkt, sah Selene Andreas’ schönes Gesicht. Starr hielt sie ihre Augen auf sein Bild gerichtet. Sie holte ihn in diesen Raum, zu sich, und machte ihn lächeln, so daß sie sich von seiner Liebe beschützt fühlte.
»I-ich weiß n-nicht, wer m-mich im T-turm gefangenhält, meine Königin.«
»Bist du allein in der Zelle?«
»Ja, meine Königin.«
»Besucht dich jemand?«
»Ja, meine Königin. Ein Mann.«
»Und was tut er, wenn er dich besucht?«
»Er stellt mir Fragen, meine Königin.«
Die Königin schwieg, als hätte Selenes Antwort sie überrascht. Selene fröstelte. Die Kälte des Marmorbodens kroch ihre Beine hinauf.
»Was sind das
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