Seelenfeuer
tropfenweise eingegeben worden. Die gespannten Zuschauer hatten gesehen, wie die Kehle des Knaben in instinktiven Schluckbewegungen gezuckt hatte.
Kazlah hatte keine Ahnung, wieviel von dem Trank er dem Knaben einflößen mußte, aber er hatte es nicht gewagt, die Gefangene eingehender zu befragen, da er fürchtete, daß sie dann argwöhnisch werden und alle Auskunft verweigern würde. Er hätte sie natürlich foltern lassen können, aber auch dann hätte er keine Gewähr gehabt, daß sie die Wahrheit sagte. Sie hätte ihn mit einer falschen Auskunft gar zum Mörder des Prinzen machen können. Besser, sie eingesperrt zu lassen. Wenn er es richtig anstellte, würde sie ihm mit der Zeit all ihr Wissen weitergeben, und wenn es von ihr nichts mehr zu lernen gab, würde er sie töten lassen, um alle Spuren ihrer Existenz auszulöschen und sicherzustellen, daß das Wissen um den geheimnisvollen Medizinkasten sein Geheimnis blieb.
Lasha saß starr im weihrauchgeschwängerten Raum. Kazlah wußte, wenn er jetzt versagte, würde er noch vor Tagesanbruch tausend Tode sterben. Doch wenn das Wunder geschehen und der Knabe genesen sollte …
Ein Seufzen schwebte wispernd durch den Raum, frisch und neu, als hätte der Fluß selbst geseufzt. Die schweren Schleier des Schlafs, unter denen der Prinz zu ersticken drohte, schienen sich zu lüften.
Kazlah beugte sich noch ein wenig weiter vor und legte seine lange, schmale Hand auf die königliche Stirn. Dann griff er wieder nach dem blauen Fläschchen. Niemand wußte, woher es gekommen war; niemand wußte von dem Medizinkasten. Und von dem Mädchen, das seine heimliche Gefangene war.
Kazlah stellte das Fläschchen auf den Tisch neben dem Bett und richtete sich auf. Aller Augen waren auf das kindliche Antlitz gerichtet. Das Klirren der Tambourins, die Beschwörungsgesänge hörten auf; die Weihrauchfässer hingen reglos. Wie versteinert standen die Höflinge. Furcht war in ihren Augen – wenn der Prinz starb, würde der Zorn der Königin sie alle treffen.
Die schmale Gestalt unter der seidenen Decke regte sich, die Lider flatterten. Dann schlug der Prinz die Augen auf und sah seine Mutter, die Königin, an.
»Mutter …« sagte er.
20
Andreas’ Augen zogen Selene an. Eine magische Kraft ging von ihnen aus, der Selene nicht einmal hätte widerstehen können, wenn sie gewollt hätte. Ihre Farbe war das dunkle Graublau eines stürmischen Himmels, und sie waren überschattet von zornig zusammengezogenen dunklen Brauen; doch paradoxerweise war ihr Blick voller Güte und Teilnahme, Spiegel einer zärtlichen und liebenden Seele.
Andreas zog Selene an sich. Seine Arme hielten sie fest. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihr Atem kam in abgerissenen Stößen. Sie hob ihm voller Sehnsucht und Begehren ihre Lippen entgegen. Andreas küßte sie, und sie flüsterte, nimm mich; nimm mich jetzt.
Lautes Krachen riß sie aus dem Schlaf. Erschrocken fuhr sie in die Höhe. Sie war verwirrt, dann erkannte sie, es war nur ein Traum gewesen. Sie sah zum Fenster hinauf. Es regnete, Donner war es gewesen, der sie geweckt hatte. Fröstelnd hüllte sie sich in die dünne Decke und stand auf.
Viele hatten schon in dieser Zelle gehaust, ehe man Selene hineingeworfen hatte. In die Wand unter dem Fenster hatte jemand Löcher geschlagen, wo man die Zehen einkrallen konnte, wenn man sich zum vergitterten Fenster hochziehen wollte, um hinauszusehen. Selene zog sich jetzt hoch und blickte auf die Stadt, deren Häuser sich unter dem prasselnden Novemberregen zu ducken schienen. Das Gesicht an die Gitterstäbe gepreßt, murmelte Selene: »Andreas, Liebster, wir küssen uns nur in meinen Träumen.«
Jeden Tag seit neunzig Tagen hing Selene an diesem Fenster, das Gesicht an die Eisenstangen gedrückt, den Blick unverwandt auf das Stadttor und die verkehrsreiche Straße gerichtet, die in die weite Wüste führte. Unablässig forschte ihr Auge nach dem einsamen Reiter, auf den sie immer noch wartete. Er wird kommen, sagte sie sich jeden Tag wieder, während sie die Gitterstäbe umklammert hielt, bis ihre Hände wund waren und ihre Schultern schmerzten. Sie war sicher, daß Andreas die Straße von Antiochien geritten war und von dem Überfall auf eines der Lager gehört hatte. Sie war sicher, daß er, wenn er sie in Palmyra nicht fand, die ganze öde Wüste nach ihr absuchen würde. Drei Monate waren vergangen; doch die Entfernung von Palmyra zu diesem Ort war groß. Früher oder später, daran glaubte
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