Seelenfeuer
Riesen, der den Eindruck machte, als hätte er die beiden Wächter leicht abschütteln können, der jedoch wie ein geprügelter Hund zwischen ihnen ging.
»Das ist ein ungewöhnliches Exemplar«, sagte Kazlah, während der Sklave an Händen und Füßen an den Sessel gefesselt wurde. »Er kommt aus dem Rheintal in Germanien. Er wurde bei den jüngsten Kämpfen gefangengenommen und von römischen Legionen mitgebracht. Sein Name ist Wulf.«
Das Haar, das die Farbe hellen Weizens hatte, fiel dem Sklaven bis über die Schultern. Seine Kleidung war das Seltsamste, was Selene je gesehen hatte – Stiefel und Beinkleider aus Pelz. Doch sein Oberkörper war nackt, nur eine primitive Halskette lag auf seiner muskulösen Brust. Sein Gesicht faszinierte Selene am meisten – ein bärtiges, von Narben durchzogenes Gesicht mit blitzenden blauen Augen, die unter buschigen blonden Brauen halb verborgen waren. Er war jung und, wie Selene an seiner Haltung erkennen konnte, von grimmigem Stolz.
»Bei ihm hatten wir eigentlich mit Schwierigkeiten gerechnet«, bemerkte Kazlah, während er darauf wartete, daß sein Assistent die Schlaftropfen in den Wein mischte. »Aber er hat sich als höchst gefügig erwiesen. Du mußt verstehen, Fortuna, daß er in tiefer Schande lebt, da er die Schlacht überlebt hat, während seine Kameraden gefallen sind. Man hat mir berichtet, daß er in seinem Volk ein Häuptling ist und in dem Glauben erzogen wurde, daß ein wahrer Mann mit dem Schwert in der Hand sterben müsse. Nun, dieser Barbar ist zweifellos auf seine Weise gestorben, als die Römer ihn lebend gefangennahmen.«
Selene hätte gern weggesehen, doch sie konnte dem Blick der blauen Augen nicht ausweichen, der sich auf sie richtete. Als Kazlah ihr den silbernen Pfeil in die Hand legte, gewahrte sie ein Flackern in dem eisblauen Blick. Er weiß, was ihm angetan werden soll, dachte Selene.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie.
»Du mußt«, befahl Kazlah. »Komm, ich zeige es dir.«
Als sie an den Barbaren herantrat, konnte sie den Schweiß und den Schmutz riechen, die seinem Körper anhafteten. Sie sah, wie die Muskeln unter der von Narben durchsetzten Haut sich spannten. Doch Furcht schien dieser Mann nicht zu kennen.
»Du kannst von mir nicht erwarten, daß ich einen solchen Eingriff vornehme, Herr!«
»Du mußt es lernen, Fortuna. Wir haben genug Sklaven, an denen du üben kannst.« Kazlah stand dicht neben ihr, berührte sie beinahe, und in seiner Stimme war ein ekelhaft schmieriger Ton. »Wir müssen einander in unserem hohen Beruf helfen, Fortuna. Ich will dich in meine Geheimnisse einweihen, und dafür wirst du mich in die deinen einweihen. Warum zögerst du, Fortuna?«
»Er –« Sie konnte kaum atmen. »Man sollte ihm erlauben, vorher zu seinem Gott zu beten.«
»Zu seinem Gott!« spie Kazlah verächtlich. »Auch nur ein ungehobelter Barbar. Das ist sein Zeichen.« Er deutete auf das aus Holz gefertigte T-Kreuz, das an dem Lederband um den Hals des Germanen hing. »Odin«, fügte er geringschätzig hinzu.
Selene sah in die blauen Augen, die unverwandt auf sie gerichtet waren, und nahm jetzt, aus der Nähe, die Gefühlsströmungen in ihnen wahr. Er fürchtet sich doch, dachte sie.
Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, dem Barbaren etwas zu sagen, Worte des Trostes, um seine Furcht zu stillen. Ich war selber einmal stumm, dachte sie. Meine Zunge war gelähmt, und ich konnte nicht sprechen. Und nachdem meine Zunge gelöst war, hatte ich Furcht zu sprechen. Andreas hat mich befreit. Der Gedanke, daß sie jetzt auf Kazlahs Befehl einen anderen Menschen in diese Welt stummer Ohnmacht verdammen sollte, erfüllte Selene mit Grauen und Abscheu.
Kazlah beugte sich über den Germanen, und der andere Arzt drückte ihm den Becher mit dem Wein an die Lippen. Doch der Barbar weigerte sich zu trinken.
»Auch gut«, meinte Kazlah wegwerfend. »Wenn er es so haben will. Dann bleibt er eben wach. Tu es jetzt, Fortuna. Genau so, wie ich es dir gezeigt habe.«
Sie stellte sich vor den Barbaren und sah ihn fest an. Ich fürchte mich genau wie du, sprach sie lautlos zu ihm. Hör mir zu, wenn du kannst.
Sie hob den kleinen Pfeil, daß der Sklave namens Wulf ihn sehen konnte, und legte dann einen Finger auf die Lippen. Sie konnte nur hoffen, daß er diese Geste, Schweigen zu bewahren, verstand. Die eisblauen Augen blickten sie an. Selene krauste die Stirn vor Anstrengung, sich dem Mann mitzuteilen. Sie preßte die Lippen fest aufeinander und
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