Seelenfeuer
in meiner Schuld, aber ich bin diejenige, die bezahlen muß.
»Ich habe mir gedacht, Fortuna, daß du Gemeinschaft brauchst. Du bist zu viel allein.«
»Ich bin nie allein, meine Königin«, entgegnete Selene vorsichtig. »Ich habe viele Sklaven.«
»Ich spreche von echter Gemeinschaft, Fortuna. Von einem Menschen, mit dem du wahrhaft teilen kannst. Du brauchst einen Ehemann.«
Selene wirbelte herum. »Nein!« rief sie impulsiv und bedauerte es augenblicklich.
Lasha lächelte. Sie hatte gefunden, was sie suchte – Selenes wunden Punkt.
»Du bist jung, Fortuna«, sagte sie. »Du verfügst zwar über die reichen Kenntnisse in der Heilkunst, die deine Mutter an dich weitergegeben hat, aber in vieler anderer Hinsicht bist du noch ein kleines Kind. Es ist meine Pflicht, ich sehe es als meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß du ein normales Leben führst. Denn dein jetziges Dasein ist doch wirklich unnatürlich. Achtzehn Jahre alt und immer noch unberührt!«
Lasha sah Selene aufmerksam ins Gesicht.
Ich bin nicht unberührt, dachte Selene trotzig. Ich bin von dem einzigen Mann berührt worden, den ich haben will – Andreas.
»Wie es der Zufall will«, fuhr Lasha fort, die künstlich vergrößerten Augen weiterhin auf Selene gerichtet, »hat sich im Palast jemand um dich beworben.«
Selene starrte sie entgeistert an.
»Ein Edler meines Hofes ist deinetwegen an mich herangetreten. Er möchte dich zu seiner Frau machen, Fortuna.«
Es war ganz still im Raum, während Lasha innehielt, um ihren folgenden Worten um so mehr Wirkung zu verleihen.
»Du bist in der Tat vom Glück begünstigt, wie der Name sagt, den ich dir gegeben habe«, sagte Lasha dann. »Denn der Mann, der um dich angehalten hat, ist kein gewöhnlicher Sterblicher, Fortuna. Es ist der Leibarzt selbst. Der edle Kazlah.«
Selene schwankte und hielt sich hastig am Tisch fest.
»Der Leibarzt wäre ein guter Ehemann für dich, mein Kind«, fuhr Lasha fort. »Ihr habt gemeinsame Interessen. Ihr könntet voneinander lernen und euer Wissen teilen. Er ist viel älter und weiser als du. Halte dir die Vorteile vor Augen.«
Selene wandte sich ab, zur offenen Tür hin, zur Terrassenmauer, die sie von der Freiheit trennte. Auf der anderen Seite der Mauer floß der Euphrat.
Aber dann sah sie nicht mehr die Mauer, sondern Kazlah, ein hohes, hageres Gespenst in mitternachtsblauen Gewändern. Er strafte einen Sklaven, der es gewagt hatte, einen Tropfen Wein über den Saum seiner Robe zu verschütten. Der Sklave war Musikant, ein sanftmütiger Harfenspieler, dem sein Gehör sein ganzes Leben war. Kazlah hatte aus dem Sortiment seiner Instrumente eine lange Nadel genommen und dem Sklaven auf beiden Seiten das Trommelfell durchstochen.
Selene starrte auf die Mauer. Ich kann jetzt gleich loslaufen, die Mauer überspringen, mich in den Fluß stürzen und um meine Freiheit schwimmen.
Wahnsinn, sagte sie sich. Wenn man mich einfängt und zurückbringt, habe ich für immer jede Chance verwirkt, Andreas wiederzusehen. Ich muß vorsichtig sein. In zwei Wochen werden zwanzig Frauen aus dem Harem um Mitternacht zu einem Schiff geführt. Und ich werde unter ihnen sein …
Selene wußte, warum Kazlah um sie angehalten hatte. Sie dachte an die üppig wuchernden Weiden, die die Flußufer außerhalb des Palasts säumten. Der Leibarzt hatte keine Ahnung, daß das, was er am heftigsten begehrte – den Trank der Hekate –, die Rinde dieser Bäume ihm hätte geben können.
Daß es Selene zwei Jahre lang gelungen war, das Geheimnis der Zubereitung der begehrten Medizin zu bewahren, hatte ihr das Leben bewahrt. Im Lauf der Monate hatte sie das blaue Fläschchen auffüllen müssen, und da sie vermutete, daß Kazlah seine Spitzel unter ihren Sklaven hatte, die ihm über die Herstellung des Tranks Bericht erstatten würden, hatte sie stets eine lange Liste von Ingredienzien angefordert, von denen einige tatsächlich erforderlich waren, andere nicht. Im Garten hatte sie den Trank dann zubereitet, und aus dem schlichten Aufbrühen eines Tees ein kompliziertes und verwirrendes Ritual gemacht. Niemand, der sie beobachtete, hätte die geheimnisvolle und völlig sinnlose Zeremonie ergründen oder sich erinnern können, welche Menge von welcher Zutat wann und wie dem Gemisch beigegeben wurde. So kam es, daß Kazlah das Geheimnis der Rezeptur noch immer nicht kannte und Selene noch am Leben war.
Für sie war es wichtig, daß er das Geheimnis niemals erfahren würde.
»Du zitterst.«
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