Seelenfeuer
des Wächters erschlaffte, bedeutete er dem Mann, sie loszulassen. Doch sobald Selene frei war, raste sie zu Darius und preßte ihre Hand auf seinen blutenden Hals. Während sie noch wie wahnsinnig nach einer Binde greifen wollte, packte Kazlah sie und riß sie zurück. Selene verlor das Gleichgewicht und fiel taumelnd an ihn. Er hielt sie fest an seinen knochigen Körper gepreßt. Sie wehrte sich, strampelte. Ihr war übel vor Abscheu und Ekel.
»Eines Tages«, flüsterte Kazlah dicht an ihrem Ohr, »wirst du mir gehören, das verspreche ich dir. Und wenn es soweit ist, wirst du mir gehorchen. Dann wirst du keine Geheimnisse mehr vor mir haben, denn als dein Ehemann habe ich das Recht, dich zu bestrafen, und keiner wird sich einmischen. Und glaube mir, ich weiß Strafen, die du dir überhaupt nicht vorstellen kannst.«
Selene starrte nur auf Darius. Sein Kopf bewegte sich schwach in den Händen des Assistenten; aber bald fielen seine Augenlider herab. Er wurde bewußtlos, und wenig später war er tot.
»Du hast doch nicht geglaubt«, murmelte Kazlah, »daß ich dich entkommen lassen würde? Dein alberner Plan wäre niemals geglückt. Soll ich der Königin sagen, was du getan hast? Wie du sie betäubt hast, um fliehen zu können? Dann können wir morgen Hochzeit feiern. Und dann wirst du die wahre Bedeutung des Wortes Strafe kennenlernen. Oder – wir können einen Tausch machen.«
Selenes Blick war starr auf den leblosen Darius gerichtet. Sie spürte, wie alles Leben auch aus ihrem eigenen Körper wich.
»Du hast einen Fehler gemacht, Herr«, sagte sie tonlos, während ihr die Tränen aus den Augen strömten. »Du hättest meinen Freund nicht töten sollen. Denn nun wirst du nie erfahren, was du wissen willst. Du kannst alles der Königin berichten, du kannst tun, was du willst. Ich werde diese Nacht niemals vergessen. Die Erinnerung wird mir die Kraft geben, mich dir niemals zu unterwerfen.«
27
König Zabbai starb plötzlich und unerwartet eines Nachts im Schlaf. Im Palast herrschte Ratlosigkeit. Die Priesterin Allats fastete und hielt Zwiesprache mit der Göttin, während Opfergaben verbrannt wurden und das Volk betete.
Endlich gab die Göttin ihre Antwort: Es gab ein uraltes, heiliges Ritual, das im gesamten Osten ausgeübt wurde. Es war überliefert aus grauer Vorzeit matriarchalischer Herrschaft. Wurde eine Königin plötzlich ihres Gatten beraubt, so konnte sie aus den Familien der Edlen einen Stellvertreter auswählen, einen jungen Mann von gutem Stamm und schöner Gestalt, der für seine Kraft und Tapferkeit bekannt war, und konnte ihn für eine Nacht zu ihrem Gatten nehmen, um am folgenden Morgen in kultischer Handlung mit seinem Blut die Erde zu tränken und fruchtbar zu machen.
Ein Kandidat wurde gefunden, die Vorbereitungen begannen.
Drei Tage lang beschworen die Priester und Priesterinnen Allats die heilige Wandlung der Mondfrau und riefen die gütige Bewahrerin der Toten und der Ungeborenen an, die Vereinigung Lashas mit ihrem Opfergatten zu segnen. Sie brachten der Lebensspenderin, die in mildem Glanz von ihrem Sternenreich herabstrahlte, reiche Opfergaben an Früchten und Honig dar, um für Königin Lasha und Magna, die heilige Mondstadt, ihren Segen zu erbitten. Jeder im Palast, vom edelsten Edlen bis zum niedrigsten Sklaven, nahm an den Feierlichkeiten teil: Mondamulette wurden verteilt und von allen getragen, Mondgebete flossen über aller Lippen; alter Aberglaube lebte wieder auf und wurde streng beachtet – zum Beispiel das Tabu des
khaibut
, das verbot, daß man mit dem Schatten seiner Person einen heiligen Gegenstand verdunkelte. Die Festlichkeiten breiteten sich in die Stadt jenseits der Palastmauern aus: Straßenhändler verkauften Statuetten der Mondgöttin; jungverheiratete Paare kauften kleine Tonkrüge mit Mondtau, den man ins Bad geben mußte, um die eigene Fruchtbarkeit zu fördern; schwangere Frauen, deren Niederkunft nahe war, tranken Kräutertees zur vorzeitigen Einleitung der Wehen, damit ihre Kinder in der Glücksnacht des Vollmonds geboren werden würden.
In den Bezirken um die Tempel Allats, vom kleinsten Schrein in der Stadt bis zum gewaltigen, von Säulen getragenen Haus Allats gleich beim Palast, drängten sich bei Tag und Nacht die Bittsteller. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Betenden und vom Rauch der Brandopfer. Und tief im Innern des Palasts, in einer Flucht von Räumen, die einzig dem heiligen Ritual vorbehalten waren, vollzog sich unterdessen die
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