Seelenfeuer
wunderbare Wandlung der Königin von der Menschenfrau zur fleischgewordenen Göttin auf Erden.
In einem anderen Teil des Palasts wurden Vorbereitungen anderer Art getroffen.
Selene begutachtete ein letztes Mal den Inhalt ihres Medizinkastens. Sie hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen, bei Tag kaum einen Bissen gegessen. Seit der schrecklichen Nacht in der Operationskammer hielt man sie in ihrem Zimmer gefangen. Tag und Nacht wurde sie bewacht, hatte nicht die geringste Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Doch einen Hoffnungsschimmer gab es in dieser Finsternis: Bei der Vereinigung Lashas mit ihrem Prinzgemahl im Opfersaal durfte nur eine einzige Person zugegen sein, die nämlich, welche den Mann töten mußte, nachdem er seine ›Ehe‹ mit der Königin vollzogen hatte. Und für diese Aufgabe hatte Lasha Selene auserwählt.
Selene klappte den Medizinkasten zu und ging in ihren kleinen Garten hinaus. Es war eine heiße, feuchte Nacht, geschwängert vom Geruch überreifer Früchte. Der weiße Glanz des Vollmonds, der scharf umrissene, schwarze Schatten an leuchtendweiße Mauern warf, tauchte den Garten in ein gespenstisches Licht, so daß er wie verzaubert wirkte.
Selene legte die Hand um das goldene Horusauge und sprach lautlos in die Nacht. Ich schwöre bei unserer Liebe, Andreas, und beim Geist meines Vaters, den ich nie gekannt habe, und meiner Vorfahren, die ich eines Tages zu finden hoffe, daß ich heute nacht entfliehen werde. Es ist meine letzte Hoffnung.
Selene hatte einen Plan.
Vor zwei Tagen waren Priesterinnen gekommen, um sie in die Hochzeitskammer zu führen, die tief unter Allats Tempel war. Dort sollte das Ritual der Vereinigung und des Todes stattfinden. Die steinerne Kammer, vor Hunderten von Jahren erbaut, war seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden, nun aber hatte man sie gereinigt und geweiht und das heilige Bett hineingestellt. Man hatte Selene eine Binde um die Augen gelegt, ehe man sie aus ihrem Zimmer durch den Palast geführt hatte, dann hinaus ins Freie und weiter durch muffige, klamme Gänge, eine Treppe hinunter bis in die heilige Kammer, wo Kazlah sie erwartet hatte, um ihr ihre Anweisungen zu geben.
»Du stehst hier, Fortuna.« Er zeigte ihr die genaue Stelle. »Wenn der Gatte hereingeführt wird, reinigst du ihn mit dem Zeichen der Göttin. Dann tanzt die Königin für ihn, und danach hilfst du ihr auf das Bett und machst sie bereit. Wenn sie dir das Zeichen gibt, daß der Akt vollzogen ist, tötest du den falschen König mit diesem Dolch.«
Er hatte ihr ein langes goldenes Messer gegeben, das nun in ihrem Medizinkasten lag, ein Werkzeug des Todes unter ihren Werkzeugen, die der Erhaltung des Lebens dienen sollten.
Als sie, wiederum mit verbundenen Augen, in ihr Zimmer zurückgebracht wurde, war Selene ein Einfall gekommen. Sie wußte, daß man sie absichtlich einen Umweg führte, um zu verhindern, daß sie sich den Weg merkte. Sie hatte den Verdacht, daß man sie mehrmals dieselben Gänge hinauf- und hinunterschleuste, ehe man sie schließlich zu der Tür geleitete, die ins Freie hinausführte, vermutlich ein Durchgang zwischen Tempel und Palast. Bei früheren Besuchen im Tempel, wenn sie an irgendwelchen Feierlichkeiten teilgenommen hatte, waren ihr die vielen Türen aufgefallen, die zweifellos alle in weitverzweigte Gänge führten. Sie wußte, wenn sie die falsche Tür durchschreiten sollte, würde sie sich im Labyrinth unter dem Tempel verirren, vielleicht tagelang durch die Finsternis stolpern, vielleicht nie wieder herausfinden. Doch wenn es eine Möglichkeit gab, die richtige Tür zu kennzeichnen …
Diesmal mußte die Flucht gelingen. Selene wurde das Bild des toten Darius nicht los und ebensowenig die schreckliche Erinnerung an den folgenden Morgen, als sie erfahren hatte, daß Samia sich an einem Baum im Haremsgarten erhängt hatte.
Es klopfte. Die Priesterinnen in weißen Gewändern, mit heiligem Öl gesalbt, waren gekommen, sie zu holen. Wieder wurde Selene die Binde um die Augen gelegt. Den Weg durch den Palast kannte sie schon, doch das war nutzloses Wissen, da sie nicht die Absicht hatte, in ihr Zimmer zurückzukehren. Erst als sie aus dem Palast ins Freie traten, merkte sie auf. Sie glaubte, einen Windhauch vom Fluß zu spüren, während sie ihre Schritte zählte: genau einhundert, ehe sie durch die nächste Tür geführt wurde.
Als die Tür hinter ihr zufiel, stolperte Selene und ließ ihren Medizinkasten fallen. Mit lautem Krachen prallte er
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