Seelenfeuer
bedrückte.
Aber sie wußte, daß seine ganze Liebe Freda, seiner Frau, gehörte. Die Erinnerung an sie begleitete ihn zu allen Zeiten, er sprach häufig von ihr und dem Tag, an dem er wieder mit ihr vereint sein würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er das Verlangen haben könnte, sich einer anderen Frau zuzuwenden. Darum hielt sie ihre Gefühle, ihr Begehren nach ihm geheim.
Wulf stand auf, um Feuer zu machen. Der Nachtwind war trotz der wärmeren Jahreszeit noch kalt. Mit Trauer dachte er daran, daß in seinen heimischen Wäldern jetzt die Frühlingsfeiern abgehalten wurden.
Die Zeit in der Fremde erschien ihm endlos. Er war gefangen in einem Land, wo die Menschen nie etwas von seinen Göttern Odin, Thor und Baldur gehört hatten. Sie wußten nichts von der Weltesche Yggdrasil, nichts von der Riesin Angrboda und dem Wolf Fenris, der in der Unterwelt angekettet lag. Sie wußten auch nicht, daß die Wolken am Himmel die Haare des erschlagenen Riesen Ymir waren und die Sterne die goldenen Tränen der Frigga.
Wulf war krank vor Heimweh. Ihm fehlten die Bäume und der Schnee, die Eberjagd, die Gemeinschaft mit den Menschen seines Stammes. Und die zuverlässige, kluge Liebe Fredas, seiner Frau.
Wenn die Verzweiflung ihn zu übermannen drohte, pflegte er aus Steinen einen kleinen Altar zu errichten und zu Odin zu beten. Und im Gebet belebte er von neuem die Erinnerung an die grausame Besetzung seiner Heimat durch die Römer. Er beschwor das Gesicht des Gaius Vatinius herauf und durchlebte noch einmal die Schrecken jener letzten Nacht: die lodernden Flammen, die gellenden Schreie, die kalte Gleichgültigkeit auf dem Gesicht des römischen Generals. Dann verlieh der frisch aufwallende Zorn ihm neue Kraft und Entschlossenheit. Rache an Gaius Vatinius! Eine Zeitlang konnte er sich dann damit abfinden, daß dieses Exil sein Schicksal war, das, was die Beduinen
gis-mah
nannten; und daß seine Seele auf Odins Amboß geschmiedet wurde, damit sie für den Tag der Abrechnung bereit sei.
Aber abends kam immer die schmerzliche Sehnsucht nach Selene. Er pflegte mit ihr am Feuer zu sitzen und den Schein der Flammen in ihren Augen zu beobachten. Oder er lag wach auf seiner Matte und lauschte ihren leisen Atemzügen. Und immer drängte es ihn, die Entfernung zu überbrücken, die sie trennte, Selene in seine Arme zu nehmen und sie zu lieben.
Ihm war, als hätte er ein Leben mit Selene verbracht. Wie wunderbar wäre es gewesen, hätte er seiner Liebe zu ihr nur einmal Ausdruck geben können. Es war nicht die tiefe Liebe, die er Freda entgegenbrachte, sondern eine zärtliche Zuneigung, die jedesmal in ihm erwachte, wenn Selene ihn anlächelte oder ihn berührte. Doch Wulf wußte von dem griechischen Arzt in Antiochien, dem Selene versprochen war, und von ihrer Bestimmung, die sie mit Leib und Seele an Andreas band. Wulf fürchtete, sie zu verletzen und zu enttäuschen, wenn er sich ihr nähern würde.
Selene legte wieder den schwarzen Schleier an, der ihr schönes Gesicht verbarg und sie zur anonymen Wüstenbewohnerin machte. Umma nannten die Araber sie. Wulf wußte, daß sie glücklich war, wenn er sie Selene nannte.
»Ich gehe jetzt zu Fatma«, sagte sie. »Ich will ihr von unserem Plan erzählen, gleich morgen fortzugehen.«
Nachdem Selene gegangen war, überließ sich Wulf wieder seinen Gedanken. Morgen würden sie auf eines der Schiffe nach Armenien gehen, und wenn sie erst in diesem fernen Land ankommen würden, würde er keine Mühe haben, sich in sein nördliches Heimatland durchzuschlagen. Er würde zu Freda zurückkehren und zu seinem Sohn Einar, der mittlerweile wohl schon zum jungen Mann herangereift war. Und er würde mit seinem Schwert das Blut des Gaius Vatinius vergießen.
Nach Selenes Rückkehr ins Zelt verabredeten sie, beim ersten Licht aufzustehen, um sich nach dem Abschied von Fatma und ihrem Stamm auf den Weg nach Babylon zu machen.
Selene löschte die Lampe, die von der Zeltdecke herabhing und kroch, genau wie Wulf völlig bekleidet, unter die Decken. Zwischen ihren Matten war nur ein schmaler Raum. Sie hätten nur die Arme auszustrecken brauchen, um einander zu berühren. Aber sie taten es nicht, da beide glaubten, der andere würde es nicht wollen. Hellwach lagen sie in der Dunkelheit nebeneinander und dachten an den fernen Tag in Armenien, wo ihre Wege sich schließlich trennen würden.
30
Sie hielten Augen und Ohren offen und blieben dicht beieinander, als sie sich unter die Menge
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