Seelenfeuer
mischten, die sich durch das gewaltige Tor der Ishtar wälzte, dessen blaue Kacheln in der Morgensonne glänzten. Selene, die nur die niedrigen Häuser Antiochiens kannte und Magna nur von einem Turm aus gesehen hatte, fand Babylon überwältigend. Wulf, der große Städte einzig von Sklavenschiffen aus erlebt hatte, wollte seinen Augen kaum trauen. Schon die Lager, die die Römer bei ihrem Vorstoß in die Rheingegend errichtet hatten, waren so beeindruckend gewesen, daß die Germanen geglaubt hatten, die Eindringlinge müßten Götter sein. Aber diese Mauern, diese von Säulen und Strebepfeilern getragenen Bauwerke, die sich majestätisch über dem Euphrat erhoben, mußten von Riesen errichtet worden sein. Blinzelnd sah Wulf zu ihren Höhen hinauf und konnte in den Wachtürmen die dunklen Schatten von Bogenschützen erkennen.
Selene hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Babylon war weit von Magna, aber sie kannte Lashas Wut. Die Königin von Magna hatte in ihrem rasenden Zorn auf die beiden Menschen, die das Ritual im Tempel entweiht und sie gezwungen hatten, einen neuen Gatten zu nehmen, ihr Netz zweifellos von Horizont zu Horizont gespannt. Selene und Wulf hatten vom verschwenderischen Lebensstil des neuen Königs gehört, der die Schatzkammern von Lashas Grabstätte geleert hatte, um zu seinem Vergnügen Seen anlegen und prunkvoll ausgestattete Lustschiffe bauen zu lassen. Lashas Bestreben, als Herrscherin in die siebente Sphäre des Himmels einzugehen, war vereitelt. Selene wußte, daß sie alles daran setzen würde, die Flüchtlinge, denen sie die Schuld daran gab, zu finden und zu bestrafen.
Doch sie sah in den Straßen Babylons keine Soldaten mit dem Sichelmond Magnas auf den Schilden, und sie sah auch keine römischen Soldaten.
Dennoch lauerte auch hier Gefahr. Selene und Wulf, in der Kleidung der Beduinen, den Medizinkasten in einem Fellsack verborgen, hielten sich auf dem Weg zum Fluß, wo den beiden Männern aus Jerusalem zufolge am Fuß des Marduktempels die sieben Schiffe nach Armenien vor Anker liegen sollten, in den Straßen, in denen es am lebhaftesten zuging. Wenn sie Soldaten sahen, traten sie rasch in einen Torbogen oder wichen in eine Seitengasse aus. Wulf trug zwar beduinische Gewänder, doch seine Körpergröße ließ sich nicht verbergen; er überragte die Menschen hier um mehr als Haupteslänge.
In lautlosem Gebet flehte Selene die Göttin an, daß sie ihnen helfen möge, den Fluß ungehindert zu erreichen. Instinktiv hob Selene die Hand und drückte sie auf das Horusauge unter ihrem Gewand. Dort fühlte sie auch das Amulett, das Fatma ihr umgehängt hatte, als sie an diesem Morgen einander Lebwohl gesagt hatten. Die Araber nannten es ein
shamrakh
; es war ein dreiblättriges Kleeblatt, Symbol der drei Phasen der Mondgöttin, das den Träger vor Gefahr und Unglück schützen sollte.
Von der Menge geschoben durchschritten Selene und Wulf ein weiteres Tor und gelangten auf einen riesigen Platz.
Verdutzt blieben sie stehen.
»Was ist denn das?« flüsterte Selene, doch Wulf konnte nur verblüfft den Kopf schütteln.
Der Platz breitete sich am Fuß eines Himmelbergs aus, der dunkelbraun unter dem beinhellen Himmel in die Höhe ragte. Ba-Bel hieß er, was soviel bedeutet wie Gottestor, und auf dem Platz in seinem Schatten wimmelte es von Menschen. Sie drängten sich an den Mauern, ballten sich um den Brunnen in seiner Mitte, lagen und hockten auf Matten, auf Stroh oder auf dem nackten Boden überall herum. Der Lärm war ohrenbetäubend, ein erschütternder Chor menschlichen Leidens.
Langsam, sich aufmerksam umsehend, gingen Selene und Wulf weiter. Männer lehnten an den Mauern, weinende Kinder lagen auf Decken, junge Frauen hockten mit schamgesenkten Köpfen. Es war kaum Raum, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so dicht lagen die Menschen nebeneinander und hintereinander auf den Lehmziegeln des Platzes – Kranke und Invaliden aller Geschlechter und aller Altersstufen. Die, welche dazu fähig waren, streckten die Arme aus, um an Wulfs und Selenes Gewändern zu zupfen; andere riefen schwach um Hilfe.
Viele der Kranken trugen Schilder an sich – entweder um den Hals oder am erkrankten Körperteil –, auf denen ihre Namen und die Art ihres Leidens aufgeschrieben waren. ›Nebe aus Uruk‹ stand da, ›Brand‹. Oder: ›Shimax aus Babylon, Zimmermann, dem eine Hand gefühllos geworden ist‹. Die, welche nicht schreiben konnten, hatten Bilder gemalt, die über ihre Leiden
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