Seelenfeuer
gebunden, so daß er in einer festen Hülle gehalten wurde und säugen konnte, während Fatma schlief. Als Fatma am folgenden Morgen erwacht war, hatte das Kleine selig an ihrer Brust geschlafen. Jetzt liebte sie dieses Kind mehr als alle ihre anderen.
Die Frauen im Zelt riefen nach Fatma. Es war Zeit, das Fett abzuschöpfen. Fatmas Schwester stimmte ein Lied an, und die anderen Frauen stimmten händeklatschend ein. Ein schöner Duft erfüllte plötzlich den Abend: Mandelöl, das erwärmt wurde, damit man es später mit dem Wollfett zu einer Heilsalbe mischen konnte.
Fatma hielt ein letztes Mal Ausschau nach Umma, dann ging sie ins Zelt.
Selene blieb in ihrem Versteck. Auf keinen Fall wollte sie gesehen werden. Sie wußte, daß es spät war und sie die Wollwäsche in Fatmas Zelt verpaßt hatte, aber sie wollte dieses Gespräch mitanhören. Es konnte für sie und Wulf Flucht und Überleben bedeuten.
Sie kauerte hinter dem dicken Stamm einer Dattelpalme. Die Männer bemerkten sie nicht, und wenn sie ihnen aufgefallen wäre, so hätten sie nur eine von vielen Beduinenfrauen gesehen: eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, von der nur die Hände und die Augen zu sehen waren. Doch die Reisenden aus Jerusalem nahmen sie gar nicht wahr.
Selene hatte sie am Nachmittag aus der Ferne beobachtet, als sie am Lagerfeuer ihre Zauberkünste vorgeführt hatten. Es gab kein Wüstenlager ohne Taschenspieler und Zauberkünstler, die für eine Mahlzeit oder ein paar Münzen ihre Kunststücke zeigten. Diese beiden hatten Holzstöcke in Schlangen verwandelt und aus den Schlangen wieder Holzstöcke gemacht, und hatten Selene nicht weiter interessiert, bis sie zufällig gehört hatte, wie sie jemandem erklärt hatten, sie wären auf der Reise nach Babylon, und das aus einem ganz bestimmten Grund.
Jetzt hockte Selene gespannt und neugierig hinter ihrer Palme und lauschte diesem Gespräch. Und während der leichte Wind ihr die Worte der beiden Gaukler zutrug, begann ihr Herz schneller zu schlagen.
Sie wollten zu den Circusschiffen, die bald von Babylon nach Armenien auslaufen sollten.
Armenien, dachte Selene aufgeregt. Das Land lag weit im Norden. War es möglich? Hatte sich der Fluchtweg endlich aufgetan? Sie vergeudete keine Zeit. Als sie gehört hatte, was sie wissen mußte, huschte sie aus ihrem Versteck und ging durch das Lager zu dem Zelt zurück, das sie mit Wulf teilte. Wenn das, was sie gehört hatte, wahr war, würden sie bei Morgendämmerung aus diesem Lager weggehen und heimwärts ziehen.
Seit ihrer Flucht aus Magna waren Selene und Wulf immer weiter nach Osten geraten, obwohl ihr Weg eigentlich hätte nach Westen führen müssen. Doch sie hatten gar keine Wahl gehabt. Lashas Soldaten hatten den Weg nach Westen blockiert, das hatten sie schon bald erfahren müssen. Es war, als zöge sich eine unsichtbare Mauer vom Euphrat bis Arabien durch die Wüste. Anfangs hatte Lasha Suchtrupps ausgeschickt, um nach den Flüchtlingen forschen zu lassen; wenige Monate später, nach ihrer Hochzeit mit einem jungen, ehrgeizigen Prinzen, hatte sie nahezu ihr gesamtes Heer ausgesandt.
Alle Straßen wurden bewacht; Reisende wurden angehalten und verhört; alle Karawanen wurden durchsucht. Einmal war auch Fatmas Stamm angehalten worden, doch die Männer – grimmige Krieger, wenn man sie reizte – hatten die Soldaten vertrieben. Selene und Wulf hatten bald erkannt, daß es das Sicherste war, ihr Leben in die Hände dieser Nomaden zu legen. Doch sie wanderten nach Osten und führten die beiden Flüchtlinge immer weiter von ihrer Heimat fort.
Wir müssen doch nach Westen, schrie es jedesmal verzweifelt in Selene, wenn die Zelte abgebrochen wurden und der Stamm in den Sonnenaufgang zog. Diese Menschen folgten uralten, überlieferten Pfaden und konnten nicht überredet werden, sie zu ändern.
Und nun lagerten sie also in dieser Oase bei Babylon, hier den Sommer zu verbringen, um ihre Schafe zu scheren und den frisch geworfenen Lämmern Zeit zu geben, groß und kräftig zu werden. Es war Zeit für Selene und Wulf, den Sprung in die Freiheit zu wagen. Es mußte ein Loch in Lashas Netz geben, durch das sie sicher entkommen konnten, um danach in weitem Bogen auf gefahrloseren Straßen endlich nach Westen zu ziehen.
Circusschiffe, hatten die Männer aus Jerusalem gesagt, die eine große Schar von Komödianten, Gauklern und Spielleuten den Euphrat hinauf nach Armenien tragen sollten, das weit außerhalb Lashas Machtbereich war. Wir müssen
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