Seelenfeuer
das ist grauenhaft«, flüsterte sie.
Er sah zur Sonne hinauf. Sie näherte sich dem Zenit. Bald würde es Mittag sein.
»Wir müssen gehen«, sagte er und nahm wieder ihren Arm.
»Bitte«, kam ein dünnes Stimmchen. Selene senkte den Blick und sah ein kleines Mädchen, das an ihrem Gewand zupfte. »Hilf meiner Mutter.«
Selene folgte ihr und kniete neben einer jungen Frau nieder, die stöhnend, die Hände auf den Unterleib gepreßt, auf einer Decke lag.
»Wann ist das geschehen?« fragte Selene, während sie die fieberhafte Stirn betastete.
»Mitten in der Nacht«, antwortete das kleine Mädchen. »Ganz plötzlich. Vater hat uns hergebracht, aber er mußte zur Arbeit. Bitte hilf meiner Mutter.«
»Hast du Blutungen?« fragte Selene die junge Frau, während sie vorsichtig auf eine Stelle oberhalb der Lenden drückte. Die Frau schrie auf vor Schmerz. Ja, sagte sie, sie hätte Blutungen, und ihren Mondfluß hätte sie das letztemal vor zwei Monaten gehabt. Selene hockte sich auf die Fersen und dachte nach. Dann bat sie Wulf um ihren Medizinkasten. Er reichte ihn ihr widerwillig, den Blick auf die Wachen an den Straßenmündungen gerichtet.
Selene goß etwas Opiumwein in einen Becher und hielt der Frau das Gefäß an die Lippen.
Dann stand sie auf und sagte so leise, daß nur Wulf sie hören konnte: »Das kann ich nicht behandeln. Es ist ein Kind, das außerhalb ihrer Gebärmutter wächst. Sie wird bald sterben, aber das Opium wird wenigstens die Schmerzen lindern.«
Ein Mann, der Selene beobachtet hatte, zog sich an einer Krücke hoch und humpelte zu ihr hin. Auf dem Schild um seinen Hals stand ›Gicht‹. Noch während Selene ihm Pulver aus zerstoßenen Herbstzeitlosen – ein altes Gichtmittel – in seinen Becher streute, trat ein zweiter Mann zu ihr, an dessen Ohr ein Schild mit der Aufschrift ›Schwerhörig‹ hing. Ehe Selene ihn untersuchen konnte, packte eine dicke Frau sie am Arm und bat um ein Mittel gegen ihre Arthritis.
Als Wulf Selene so umdrängt sah, packte er sie kurzerhand beim Arm und riß sie mit sich fort. Er wollte sie gerade auf die Soldaten aufmerksam machen, die rund um den Platz patrouillierten, da wurde Selene von einem sichtlich wohlhabenden Mann aufgehalten.
»Bitte sieh einmal nach meiner Frau«, sagte er und wies mit beringtem Finger auf eine stattliche Matrone, die inmitten einer Menschengruppe, vermutlich ihrer Familie, auf einem Stuhl saß. »Sie hat Schmerzen im Kopf«, erklärte der Mann besorgt. »Und mit dem linken Auge sieht sie Sterne.«
Selene wußte, was das bedeutete. Ein böser Geist hatte sein Ei im Gehirn der Frau abgelegt. Gegen ein solches Leiden vermochte Selene nichts. Hier hätte höchstens Andreas helfen können. Andreas!
»Selene«, sagte Wulf leise und streng.
Als sie zu ihm aufsah, wies er mit dem Kopf wortlos zur anderen Seite des Platzes, wo zwei Wachen jetzt an ihnen Interesse zeigten. Dann packte er eilig den Medizinkasten, steckte ihn in den Fellsack, hängte ihn über die Schulter und nahm Selene bei der Hand.
Sie waren nur wenige Schritte gegangen, als Selene hörte, wie ein Vorüberkommender einem Mann, auf dessen Krankenschild ›Geschwür‹ stand, Oleandertee empfahl.
»Nein!« rief sie. »Oleander ist ein Gift.«
Im selben Moment trat ihr eine sehr schöne junge Frau im Gewand einer Liebesdienerin des Tempels in den Weg und sagte hastig: »Meine Schwester hat seit vier Tagen Wehen. Bitte komm, sie ist gleich da drüben unter dem Torbogen.«
»Nein«, versetzte Wulf, der sah, daß die beiden Wachen jetzt langsam über den Platz kamen. Wieder zog er Selene weiter. »Vielleicht ist es nichts«, sagte er dicht an ihrem Ohr, »aber sie haben den Medizinkasten gesehen, und auch, wie du die Mutter des Kindes behandelt hast.«
Selene spähte über Wulfs Schulter. Die beiden Soldaten näherten sich jetzt mit zielstrebigem Schritt. Sie hatten den frommen Babylonier erreicht, der neben seiner Frau kniete und sein Gesicht auf ihren angeschwollenen Leib drückte.
»Er sagt ihnen bestimmt, daß wir in Babylon fremd sind«, meinte Wulf. »Er wird dich beschreiben, Selene, und den Medizinkasten auch.«
Selene erschrak und begann, schneller zu gehen, verschloß sich den Hilferufen der Menschen, die von beiden Seiten die Arme nach ihr ausstreckten. Einmal drehte sich Wulf um und sah, daß die Wachen, die inzwischen mit dem Babylonier gesprochen hatten, jetzt in entschlossener Haltung den Platz überquerten.
Von der Ostseite des Platzes zweigten
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