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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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ihres Beines führen würde; oder sie konnte ein großes Blutgefäß durchtrennen, und dann würde Selene verbluten.
    Wulf nahm sich den Medizinkasten vor. In seiner Heimat hätte er eine lange Föhrennadel verwendet, um die Widerhaken des Pfeils zu finden; jetzt wählte er eine lange silberne Sonde. Ehe er an die Arbeit ging, hob er Selene ein wenig hoch, so daß ihr Kopf in seiner Armbeuge ruhte, und gab ihr Opium zu trinken. Dann legte er sie so bequem wie möglich auf die Seite, breitete den roten Umhang über ihr aus und drückte ihr die Figurine der Isis in die Hand.
    Mit einem kurzen Stoßgebet zu Odin beugte sich Wulf über Selenes Schenkel, um die Widerhaken zu suchen. Sobald die Sonde ihr Fleisch berührte, schrie sie auf. Wulf wollte ihr mehr Opium geben, doch sie konnte nicht schlucken. Ihr Atem kam in Stößen; ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
    »Schnell«, hauchte sie. »Hämmere ihn durch.«
    Mit zitternder Hand nahm Wulf wieder die Sonde. Entschlossen, den Pfeil auf seine Weise zu entfernen, nahm er eine Verbandrolle aus dem Medizinkasten und schob sie Selene zwischen die Zähne. Wenn sie jetzt schrie, würden die Schreie gedämpft werden.
    Dann begann er zu sondieren. Er hatte oft gesehen, wie es gemacht wurde, hatte es einmal sogar am eigenen Leib erfahren. Aber zu Hause stand einem die weise Frau mit ihren Kräutern und ihrem Räucherwerk zur Seite; zu Hause lag man auf weichem Fell, von tröstlichem Feuer gewärmt. Die Priesterinnen der Großen Mutter verbannten die bösen Geister, und dem Verletzten wurde reichlich Met eingeflößt, den Schmerz zu betäuben. Hier jedoch war er ganz auf sich gestellt. Niemand konnte ihm helfen, niemand konnte Selene Trost und Beruhigung zusprechen.
    Nach vier Sondierungen hatte er die Widerhaken der Pfeilspitze gefunden. Er markierte ihre Lage mit Blutstropfen auf Selenes weißer Haut. Dann hockte er sich auf die Fersen und sah sich die Wunde aufmerksam an.
    Es gab nur ein Mittel, eine Pfeilspitze mit Widerhaken zu entfernen, ohne die Verletzung noch weiter aufzureißen – indem man die Kiele von Adlerfedern verwendete. Als könnte allein sein Wunsch die gewaltigen Vögel herbeizaubern, blickte Wulf zum Himmel auf. Mit Erstaunen sah er, daß inzwischen die Sterne aufgegangen waren. Die Nacht war sehr still; nur das Knarren der Floßplanken und das Klatschen des Wassers waren zu hören. Hin und wieder hörte man von einem der anderen Boote eine Stimme, ein Lachen, den klingenden Ton einer Harfe.
    Er sah zu Selenes Gesicht hinunter. Ihre Augen waren geschlossen. Sie atmete keuchend durch den Verband in ihrem Mund.
    Wieder suchte Wulf im Medizinkasten. Viele der Dinge, die er enthielt, hatte er gesehen, wenn Selene während ihres Lebens bei den Beduinen einen Kranken versorgt hatte; dennoch wußte er mit den meisten nichts anzufangen. Einen Gegenstand nach dem anderen nahm er zur Hand und legte ihn wieder zurück – einen durchsichtigen Stein, Fläschchen mit Ölen und Salben, Nähnadeln aus Fischbein, Beutelchen mit getrockneten Kräutern. Er fand nicht das, was er suchte. Schließlich pflückte er einen Schilfhalm und versuchte, ihn in der Mitte zu spalten; doch er war zu grün und zerfaserte. Er suchte etwas Rundes, Langes, Hohles; eine Hülle für die Widerhaken. Verzweifelt beugte er sich noch einmal über den Medizinkasten.
    Da sah er den Schreibkasten, der an der Unterseite des Deckels befestigt war. Er öffnete ihn und sah mit Erleichterung die Federkiele darin. Nachdem er einen ausgewählt hatte, einen Gänsekiel, wie er vermutete, schnitt er ihn der Länge nach durch, so daß er nun zwei halboffene Röhrchen hatte. Nun konnte er nur noch hoffen, daß sie stabil genug waren.
    Ehe er sich wieder der Verletzung zuwandte, tränkte er die Verbandrolle in Opium und schob sie Selene wieder zwischen die Zähne. Selene sah ihn angstvoll an.
    »Ich ziehe ihn jetzt heraus«, sagte er leise.
    Sie schüttelte kraftlos den Kopf.
    »Ich werde nicht tun, was du willst, Selene«, sagte er fest. »Ich werde ihn nicht durchstoßen. Ich tue, was mein Vater mich gelehrt hat. Es tut weh, aber es geht schnell und es ist sauber.«
    Einen Moment lang sah sie ihn stumm an, dann nickte sie.
    Wulf zog das Lämpchen näher heran, als er sich über ihren Schenkel beugte. Der Pfeilschaft ragte kaum einen Fingerbreit aus dem Fleisch heraus. Wenn er ihn versehentlich tiefer hineinstoßen sollte, würde er Selenes Bein aufschneiden müssen, um ihn herauszuholen.
    Er ging so vorsichtig

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