Seelenfeuer
Ecke und strich sich nachdenklich den buschigen Bart. Normalerweise leistete er bei Geburten keinen Beistand; er war nur hier, weil der König es gewünscht hatte. Diese junge Prinzessin war eine seiner Lieblingsfrauen. Als Chandra jetzt die Verwirrung unter den Frauen sah, trat er näher an das große Himmelbett heran.
Aus schwarzen Mandelaugen betrachtete er das Neugeborene, das in seiner durchsichtigen Hülle auf dem Laken lag, dann stach er mit spitzem braunem Finger in die dünne Haut hinein. Sie zerriß, und Wasser quoll heraus. Doch nicht die Gebärmutter der Prinzessin, wie nun alle sahen, sondern die Fruchthülle des Kindes, ein glückliches Vorzeichen.
Die Hebammen jubelten und stürzten zum Bett, um sich wieder ihren Aufgaben zu widmen. Chandra wünschte den Frauen mit einem kurzen Nicken einen guten Abend und eilte hinaus. Er hatte dem König versprochen, die Geburt unverzüglich dem Astrologen zu melden, damit dieser die Sterne des Kindes lesen konnte.
Klein und rundlich, in zitronengelber Seide und gleichfarbigem Turban, schritt Dr.Chandra tief in Gedanken versunken durch die Gänge des Palasts. Was, dachte er, konnte das zu bedeuten haben? Niemals in den Jahren seiner Tätigkeit als Arzt hatte er ein solches Phänomen beobachtet. Einer rosigen Krabbe gleich, von durchsichtiger Schale umhüllt, hatte das Neugeborene in seiner Fruchthülle gelegen. Niemals würde er den Anblick vergessen.
Die Sonne war untergegangen, die Nacht schon da, aber die Turmspitzen des Palasts über den weiten Parkflächen funkelten golden im späten Abglanz der längst am Horizont versunkenen Sonne. Kuppeln und Minarette hoben sich schwarz vom mitternachtsblauen Himmel ab, an dem schon die ersten Sterne flimmerten, doch auf den Türmen dort oben, die bis in die Wolken zu ragen schienen, lag noch das Tageslicht.
Was für ein Blick würde sich einem Menschen auftun, dachte Dr.Chandra, der fähig wäre, diese Spitzen zu erklimmen? Wie weit würde sein Auge schweifen? Wie weit würde seine Seele fliegen können? Es war ein weiteres ehrfurchtgebietendes Wunder an diesem Tag, der voller Wunder gewesen war.
Die Geburt des jungen Prinzchens in seiner Glückshaube war nicht das erste gewesen. Tatsächlich hatte der Tag schon mit einem Wunder begonnen; mit der unglaublichen Prophezeiung nämlich, die der Astrologe kurz nach Sonnenaufgang ausgesprochen hatte und die selbst nach einem langen Arbeitstag im Behandlungszimmer, im Pavillon und später im königlichen Kreißsaal nichts von ihrer Wirkung auf Dr.Chandra verloren hatte.
Er kam zum Himmelsobservatorium und sah, daß der chinesische Diener des Astrologen ihn bereits erwartete. Nur widerstrebend trat er in den Holzkasten, diese höllische Erfindung, die Nimrod sich ausgedacht hatte, damit niemand ihn unverhofft bei seiner Arbeit im Turm stören konnte. Dr.Chandra hatte sich bis zu diesem Tag nicht an den Schwebekasten gewöhnen können, der jetzt unter fleißigem Kurbeln des Chinesen vom Boden abhob. Während er vom Wind geschüttelt immer höher schwebte, stand Dr.Chandra mit geschlossenen Augen und klammerte sich fest. Oben angekommen, führte der Chinese den Arzt über eine nicht weniger beängstigende Hängebrücke, von der man weite Sicht auf die umliegenden Berge hatte, zu einem hohen Tor, das mit geheimnisvollen Zeichen beschriftet war.
Nachdem Dr.Chandra in den runden Saal hinter dem Tor getreten war, verbeugte sich der Chinese und zog sich lautlos zurück.
Dies war das Reich des Astrologen, wo er seit Jahren hauste. Doch der große runde Saal war nicht der höchste Gipfel von Nimrods Turm; zur Turmspitze führte eine Treppe mit zweiundfünfzig Stufen. Dort oben auf dem Kuppeldach befand sich ein altes Observatorium, wo Nimrod in diesem Augenblick dem Sphärengesang der Sterne lauschte.
Ungeduldig sah der indische Arzt zur Kuppeldecke hinauf, einem goldenen Gewölbe, von funkelnden Edelsteinen besetzt, die die Sterne darstellen sollten. Es kam vor, das Nimrod stundenlang dort oben verweilte. Der Himmel und die Sterne waren das einzige, was Nimrod kannte, und er kannte sie besser als jeder andere, denn er war der Daniel ganz Persiens, letzter der heiligen Daniter, deren Linie sich bis in die Zeit Nebukadnezars zurückverfolgen ließ, als die Daniels – von Dan-El, einem uralten phönizischen Gott – Propheten gewesen waren. Nimrod war kein Prophet, dennoch konnte er die Zukunft voraussagen, denn sie stand in den Sternen geschrieben. Ohne vorherige Befragung
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