Seelenfeuer
und dem buschigen Bart wirkte fast wie ein Zwerg neben dem sehnigen, ungewöhnlich hochgewachsenen Astrologen. Es war, als hätte das ständige Greifen nach den Sternen Nimrod in die Länge gezogen. So gegensätzlich die beiden äußerlich wirkten, sie waren verwandte Seelen; seit dem Tag, als Dr.Chandra als junger Mann aus Indien gekommen war, hatten sie manchen Abend bei Gespräch oder Schachspiel verbracht und waren sich völlig einig in der Überzeugung, daß sie an Geist und Einsicht allen Menschen auf der Erde überlegen waren.
Dr.Chandra berichtete von der ungewöhnlichen Geburt des Prinzen, und Nimrod ging sogleich daran, die Sternkonstellationen für das Kind auszuarbeiten. Nachdem Dr.Chandra ihm eine Weile zugesehen hatte, erkannte er, daß sein Freund jetzt viel zu vertieft war, um ihm Näheres über die ominöse Prophezeiung mitzuteilen, die er ihm am Morgen gemacht hatte. »Mein Freund«, hatte er gesagt, »die Sterne sagen, daß ein vieräugiger Mensch nach Persien kommen wird, der deinem langen Aufenthalt hier ein Ende bereiten wird.«
Und was konnte das anderes bedeuten, sagte sich Dr.Chandra zum tausendstenmal, als daß er sich auf eine lange Reise begeben würde?
Da er sah, daß die rätselhafte Prophezeiung an diesem Abend keine Erhellung erfahren würde, zog Dr.Chandra sich still zurück und schwebte wenig später in Nimrods schwankendem Holzkasten wieder zur Erde hinunter.
Nachdem er seine Patienten im Pavillon besucht und sich nach dem Befinden des neugeborenen Prinzen erkundigt hatte, begab sich Dr.Chandra in einen Flügel des Palasts, in den nur wenige Menschen kamen, und klopfte dort an eine Tür. Man führte ihn in die abgeschieden gelegenen Räume einer Patientin, die hier ein Einsiedlerdasein führte, die Prinzessin, die allgemein die Bedauernswerte genannt wurde, die einzige Patientin, die Dr.Chandra nicht heilen konnte und nicht heilen würde, sollte ihm je die Möglichkeit gegeben sein.
33
Selene öffnete die Augen und blinzelte zur Decke hinauf. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah, daß Wulfs Matte leer war. Ihr fiel ein, daß er nochmals in die Stadt gegangen war, um einen Führer zu finden, der sie nach Persepolis bringen würde.
Selene versuchte, sich aufzusetzen und verzog unter Schmerzen das Gesicht. Die ersten Momente nach dem Erwachen waren immer schlimm. Sie mußte sich jedesmal zum Aufstehen zwingen; wenn sie es nicht tat, hielt der Schmerz im Bein an. Ausgerechnet über diesen Punkt waren sie und Wulf das erstemal in Streit geraten. Gleich nach ihrer Landung an dieser persischen Küste hatte er ein Gasthaus ausfindig gemacht und Selene dort untergebracht. Sie dürfe auf keinen Fall ausgehen, hatte er erklärt, da die Wunde in ihrem Bein noch nicht völlig verheilt sei. Sie brauche dringend noch Ruhe. Selene jedoch, die es nicht aushalten konnte, wie in einem Käfig zu leben, hatte entgegnet, das Bein brauche dringend Bewegung. So war es eine Weile hin und her gegangen, und schließlich hatte Wulf gewonnen. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie nahe sie dem Tod gewesen war. Jetzt behandelte er sie, als wäre sie zerbrechlich.
Selene wusch sich, kleidete sich an und aß das Frühstück, das Wulf ihr hingestellt hatte. Dann ging sie auf den Balkon, wo sie Ysopblüten zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet hatte. Einen Moment lang blieb sie stehen und massierte sich den Oberschenkel. Wulf hatte recht; sie war immer noch nicht ganz gesund. Und sie war dem Tod wirklich sehr nahe gewesen.
Ich war schon mit einem Fuß über der Schwelle, aber dann wurde ich zurückgerissen, dachte sie. Was war das für eine Macht gewesen, die sie zurückgeholt hatte?
Sie schüttelte die Gedanken ab und setzte sich in die Sonne, um die Blüten für ihren Medizinkasten auszusortieren. Sorgsam trennte sie Blüten und Sprossen von den Blättern. Die blauen Blüten und die zarten Sprossen mit heißem Wasser aufgegossen, ergaben einen wohltuenden Brusttee für den Winter. Aus den schmalen, wohlriechenden Blättern ließen sich duftende Öle und Aromastoffe gewinnen, die man auf dem Markt gegen andere Waren tauschen konnte. Gerade so wie Wulf in diesem Augenblick versuchte, den durchsichtigen Feuerstein aus ihrem Medizinkasten als Lohn für einen Führer mit Saumeseln anzubieten. Abgesehen von ihren Arzneien und Instrumenten war das der einzige Besitz von Wert, der ihnen geblieben war.
Sie hatte allerdings auch noch das Horusauge, das Andreas ihr vier Sommer zuvor umgelegt hatte und das sie
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