Seelenfeuer
Nimrods wurde im Palast nichts getan, ob es nun um Regierungsgeschäfte oder private Angelegenheiten ging; man öffnete nicht einmal einen Weinkrug, ohne Nimrod vorher befragt zu haben, ob die Sterne günstig standen. Und der Astrologe irrte sich selten.
Nervös marschierte Dr.Chandra in dem runden Saal auf und ab. Er wollte mehr über die unglaubliche Prophezeiung hören, die Nimrod am Morgen gemacht hatte.
Daß ich, nachdem ich sechsunddreißig Jahre lang in diesen Mauern gelebt habe, endlich fortgehen und niemals zurückkehren werde!
Nimrod saß unterdessen hoch oben in seinem Turm, das Gesicht zu den Sternen erhoben, und bewegte die Lippen in einem vielmals deklamierten stimmlosen Gesang. Den ganzen Tag, vom frühen Morgen an, hatte er gemessen und gerechnet, Aspekte und Aszendenten, Oppositionen und Konjunktionen kalkuliert. Er hatte geschrieben und gezeichnet, und die Pergamentbögen häuften sich nun zu seinen Füßen wie Herbstblätter; Darstellungen von Trigonal- und Sextilaspekten, mathematische Tabellen, Darstellungen der Sternen- und Planetensymbole. Immer wieder hatte er sie hier oben im Dunkel der Nacht studiert und gelesen, erst lautlos, dann flüsternd, schließlich mit lauter Stimme, als könne er hörend glauben, was seine Augen nicht wahrhaben wollten. Denn die Botschaft war zu bestürzend.
Und nun betete er; er betete in der Hoffnung auf Beruhigung, in der Hoffnung auf ein Zeichen der Götter, das ihm sagte, daß seine Ergebnisse falsch waren. Doch was half es, den Göttern Lippendienste zu leisten? Mit dem Herzen mußte man zu ihnen sprechen, und Nimrods Herz blieb hartnäckig stumm.
Er bemühte sich redlich zu glauben. Er wünschte verzweifelt, wieder so glauben zu können, wie er vor vielen Sommern geglaubt hatte, als er an Geist und Seele jung gewesen war und die Götter bis zum Fanatismus verehrt hatte. Irgendwann jedoch im Lauf der Jahre, war Nimrod in seinem Glauben an die Götter schwankend geworden und hatte ihn schließlich verloren. Da hatte er getan, was viele einstmals Gläubige tun, die sich fürchten, die Götter ganz zu verstoßen: Er hatte aus dem Glauben ein wissenschaftliches Studium gemacht und begonnen, die Götter zu studieren. Doch dabei hatte er eine schreckliche Entdeckung gemacht; je eingehender er die Götter studierte, desto weniger konnte er ihrer habhaft werden. Bis der Tag kam – wann? in seinem fünfzigsten Jahr? oder war es in seinem siebzigsten gewesen? –, als Nimrod wieder einmal diese zweiundfünfzig Stufen erklommen und für sich erkannt hatte: Sie existieren nicht!
Der lautlose Gesang brach ab. Nimrod senkte die zitternden Hände und starrte zu den Sternen hinauf, als sähe er sie zum erstenmal. Die Sterne waren das einzige, was von Bedeutung war; sie waren das einzige, was existierte, diese langsam kreisenden, eiskalten Lichter, die in den schwarzen Himmel emporgeschleudert worden waren, lange ehe die Erde entstanden war. Diese Sterne bestimmten die Geschicke der Menschen. Nimrod glaubte fest, daß nicht der menschlichen Phantasie entsprungene Götter, sondern Sterne und Konstellationen den Fluß menschlichen Lebens lenkten. Nicht kleine steinerne Standbilder, die zerbrachen, wenn man sie fallen ließ. Diese Sterne waren das Göttliche; ihnen galt nun die Verehrung Nimrods, des Astrologen.
Als er einige Zeit später den Fuß der Wendeltreppe erreichte, lehnte er sich an die Mauer, um Atem zu schöpfen. Seine Schriften und Berechnungen hielt er an die Brust gedrückt wie Kinder. Er schloß die Augen und seufzte. Manchmal war es ein Fluch, die Zukunft lesen zu können, und das, was er soeben gelesen hatte, verursachte ihm großen Schmerz. Er schwor sich, seinem alten Freund nicht zu sagen, was er in den Sternen gesehen hatte; er hatte an diesem Morgen schon zuviel gesagt. Dr.Chandra war sicher schon hier, im runden Saal, um mehr von ihm zu erfahren. Der Vorwand für sein Kommen wird sein, mir die Geburt des Prinzen mitzuteilen, dachte Nimrod, der den alten Freund gut kannte. Aber ich weiß, worum es ihm in Wirklichkeit geht, und ich werde es ihm nicht sagen.
Noch einmal seufzte er tief, dann stieß er sich von der Mauer ab und ging in den Saal, wobei er sich unglücklich fragte, ob die Sterne vielleicht einen Greis zum besten haben wollten, der irgendwie die Verabredung mit dem Tod verpaßt hatte.
Arzt und Astrologe verneigten sich förmlich voreinander, obwohl sie seit dreißig Jahren Freunde waren. Der rundliche Arzt mit der olivbraunen Haut
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