Seelenflüstern (German Edition)
ich ganz anders.«
Der alte Mann rutschte nach vorn und faltete die Hände auf dem Tisch. »Was strahlt sie aus, Paul?«
»Sie ist wütend, Sir«, sagte der Wächter.
Der alte Seelenflüsterer neigte den Kopf. »Interessant. Weshalb sind Sie denn so aufgebracht, 102?«
Ich beugte mich vor. »Wie könnte ich nicht aufgebracht sein?«
Der Mann mit der Halbglatze meldete sich zu Wort. »Seelenflüsterin 102, wir verstehen, dass die Situation Ihnen missfällt. Wächter 438 war viele Zyklen lang Ihr Partner. Aber bei Ihrer Erfahrung werden Sie die Notwendigkeit verstehen, Gerechtigkeit zu üben.«
»Gerechtigkeit? Das ist keine Gerechtigkeit. Das ist Mord!« Ich starrte in erstaunte Gesichter. Namenlose Gesichter. Sie gehörten Wesen ohne Herz. Nur den alten Mann schien mein Ausbruch nicht zu überraschen.
»Sie sehen nur die Tat, nicht den Zusammenhang, in dem sie begangen wurde. Wie wollen Sie da zu einem gerechten Urteil kommen? Diese Anhörung ist doch bloß ein trauriges Theater.«
Dass der alte Mann mich ausgerechnet jetzt anlächelte, brachte mich aus dem Konzept. »Und wie sieht dieser Zusammenhang Ihrer Meinung nach aus, 102?«
»Ich habe einen Namen. Sie nicht?«
»Doch, sicher. Wir alle haben einen. Das hier ist Ophelia und rechts von mir sitzt Robert. Ich heiße Charles. Im derzeitigen Zyklus ist meine Nachname MacAllen. Ich bin der Vorsitzende dieses Komitees. Und ich leite diese Sektion des RF. Sie umfasst die gesamte Küstenregion. Wollen Sie uns jetzt vielleicht auch Ihren Namen nennen?«
Er wusste Bescheid. Aus irgendeinem Grund war der Mann namens Charles über meinen Gedächtnisverlust informiert. Aus Ophelias und Roberts verwirrten Blicken schloss ich, dass sie nichts davon ahnten.
»Und welche Art von Schwingungen empfangen Sie jetzt von ihr, Paul?«, fragte Charles.
Paul stand immer noch innen an der geschlossenen Tür des Konferenzzimmers. »Angst, Sir.«
»Hilf mir!«, schrie die körperlose Stimme einer Frau. »Bitte hilf mir.«
»Jetzt nicht. Bitte geh«, sagte ich.
»Du musst uns helfen«, sagte eine männliche Stimme hinter meiner Schulter.
»Verschwindet, ihr Spukgestalten!«
Charles lachte. Es war ein amüsiertes Lachen ohne jede Boshaftigkeit. »Sie haben schon immer eine große Anziehungskraft auf alle Gestrandeten ausgeübt. Ihre Emotionalität zieht sie an. Sie und ich konnten uns kaum je unterhalten, ohne dabei von gestrandeten Seelen unterbrochen zu werden. Oder?«
Damit hatte er mich in die Enge getrieben, das wusste er genau. Kein Problem. Zu verlieren hatte ich sowieso nichts mehr. »Leider kann ich dazu nichts sagen. Ich erinnere mich nämlich nicht an meine vergangenen Leben.«
Charles lehnte sich zurück. »Und was erwarten Sie nun von uns, Lilian?«
Er kannte meinen Namen. Ich wollte schreien.
Ein ganzer Chor von Gestrandeten fing an, nach mir zu rufen.
»Da bist du ja.« Die tiefe, raue Stimme hinter mir kannte ich genau.
Ich sprang so schnell auf, dass mein Stuhl zu Boden krachte. Doch als ich mich umdrehte, sah ich nichts.
»Wir müssen reden, Babe.«
Und ich hatte geglaubt, es könnte nicht mehr schlimmer kommen.
»Zak.« Ich lehnte mich an die holzgetäfelte Wand.
Charles sah mich an. »Ist dieser Gestrandete der junge Mann von gestern Abend? Derselbe Zak?«
Nickend rutschte ich an der Wand entlang zu Boden. Dort blieb ich erst einmal sitzen. Mein Herz wollte in tausend Scherben zerspringen. Zak war ein Gestrandeter. Er war tot. So wie Dad. Und so wie Alden es bald sein würde. Das war einfach zu viel. Ich schloss die Augen und wünschte mir, ich könnte mich einfach in nichts auflösen und diesen ganzen Wahnsinn beenden. Stumme Schluchzer schüttelten meinen Körper. Ich konnte nicht einmal richtig weinen, nur mühsam nach Luft schnappen. Zak war tot.
»Dürfen wir diesen Gestrandeten für Sie erlösen? Ihre starken Gefühle beeinträchtigen Ihre Leistungsfähigkeit«, sagte Ophelia.
Die Worte fühlten sich an, als hätte mir jemand ein Glas Eiswasser ins Gesicht gekippt. Sie rissen mich aus der Benommenheit, die zusammen mit der tiefen Trauer gekommen war. »Meine Leistungsfähigkeit?« Ich stand auf. »Vielleicht ist es ja besser, gelegentlich ein bisschen weniger zu leisten, als gefühllos und starr zu sein. Komm, Zak. Ich helfe dir. Was kann ich für dich tun?«
Zaks Stimme sprach direkt vor mir, so als würden wir uns ganz normal unterhalten. Er klang verwirrt und aufgeregt. »Ich wollte … ach verdammt … ja. Ich wollte dich einfach
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