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Seelenflüstern (German Edition)

Seelenflüstern (German Edition)

Titel: Seelenflüstern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Lindsey
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nicht vollständig ist, habe ich nicht genug Kraft, um deinen Körper zu kontrollieren. Aber einen Großteil deiner Gefühle empfinde ich auch. Ich höre, was du hörst, und sehe durch deine Augen. Zu deinen Erinnerungen habe ich keinen Zugang, aber ich kann dir meine geben. Bist du so weit?
    »Hast du’s eilig?«
    Ein bisschen. Ich lasse meinen Körper nicht gern zu lange seelenlos. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist einfach zu groß. Wenn deine Mutter plötzlich nach Hause kommen würde, wäre das doch ziemlich seltsam. Ein seelenloser Wächterkörper darf von niemandem gefunden werden. Das ist eine unserer wichtigsten Regeln.
    Anscheinend gab es davon jede Menge. Aber diese fand ich ganz sinnvoll. »Okay. Leg los.«
    Die Übertragung der Erinnerungen war wie eine hochauflösende Bildershow in meinem Gehirn. Außerdem konnte ich Aldens Erinnerungen hören und fühlen wie meine eigenen, kam aber nur an diejenigen heran, die er auch tatsächlich mit mir teilen wollte. Wiederholen oder in Zeitlupe abspielen, konnte ich sie dann selbst – als hätte er die Daten zur freien Verfügung auf meine innere Festplatte geladen. Ich wurde von Erinnerungen an mich – oder viel mehr an Rose – und Alden regelrecht geflutet. Als der Regen kam, ließ ich den Film langsamer laufen. Alden hatte nicht gelogen. Ich sah den großen Sturm, den Hurrikan von 1900.
    »Schnell, Rose. Wir müssen hier raus, bevor alles zusammenfällt«, schrie der Alden aus der Vergangenheit. Er saß auf der Kante eines Dachfensters und streckte Rose die Hand entgegen. »Rose, bitte.« In der Erinnerung war er genauso schön wie der leblose Alden, der vor mir stand,und sah auch fast genauso aus. Nur das Haar war etwas kürzer und die Koteletten länger. Auch älter schien er in der Erinnerung zu sein.
    Rose riss sich den bauschigen Rock herunter, watete durch das knöcheltiefe Wasser und griff nach Aldens Hand. Ich hatte das Gefühl, mich selbst in einem aufwendigen alten Kinofilm zu sehen. Roses Gesicht sah aus wie meines. Genau wie ich jetzt, war sie etwa siebzehn Jahre alt und damit deutlich jünger als der Alden, mit dem sie es zu tun hatte. Sie hatte dasselbe dunkelbraune Haar wie ich und dieselben fast schwarzen Augen. Unsere Ähnlichkeit war verblüffend, und doch wirkte sie irgendwie anders. Würdevoller vielleicht.
    Sie stieg auf ein Schreibpult am Fenster und von dort auf die Fensterbank.
    »Bleib hier. Ich suche erst einen sicheren Ort«, schrie Alden ihr ins Ohr. Während er aufs Dach kletterte, klammerte Rose sich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest.
    Dann drang Aldens Stimme durchs Sturmgeheul. »Hierher, Rose! Jetzt!«
    Sie kletterte an den Schieferschindeln des Daches hinauf, und er zog sie zu sich auf den Giebel der Dachgaube. Braune Wasserstrudel drehten sich rings um das Haus. Das Wasser reichte schon bis zur Dachrinne. Treibholz in Massen, dazwischen Tierkadaver und Leichen. Überall klammerten sich verzweifelte Menschen an Balken und Gebäudeteilen fest, die vom Wasser mitgerissen wurden. Ihre Gesichter waren angstverzerrt, der Sturm verschluckte ihre Schreie.
    »Wir müssen auf die andere Seite«, brüllte Alden. Er schlang den Arm um Roses Hüfte und zog sie mit sich über das Dach des zweigeschossigen Hauses, das auf derRückseite etwas flacher abfiel. Alden kauerte sich auf den Absatz, an dem das Verandadach mit dem Hausdach einen Winkel bildete und schützte Rose mit seinem Körper vor den herumfliegenden Trümmerteilen.
    Dieser Mann war ganz eindeutig der Alden, den ich kannte. Aber Rose war nicht ich. Obwohl wir einander zum Verwechseln ähnlich sahen, schien sie mir fremd. Ihre Bewegungen waren zu anmutig, und auch die Stimme passte nicht.
    Rose bat Alden, in der Zukunft nach ihr Ausschau zu halten, falls ihnen etwas zustoßen sollte. Dann küssten sie einander. Und zwar richtig. Eine so leidenschaftliche, verzweifelte Umarmung hatte ich bisher nur im Kino gesehen.
    Ihnen in diesem ganz privaten Moment zuzuschauen, war eigenartig. Fast peinlich und irgendwie nicht richtig. So als sollte ich das nicht sehen. Aber ich wollte es. Und ich wollte an Roses Stelle sein.
    Plötzlich merkte ich, wie heftig mein Herz bei dieser Szene schlug.
    Dann brachen die Erinnerungen so abrupt ab, als hätte jemand den Stecker aus dem Vorführgerät gezogen.
    »Was ist los?«, flüsterte ich. »Warum hast du aufgehört?«
    Fass bitte meinen Körper an. Ich muss zurück.
    »Ich will aber noch mehr sehen.«
    Jetzt nicht. Bitte lass mich raus.

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