Seelengesaenge
Zukunft und ihr Glück suchten. Die Arbeit war hart, der Lohn karg, die berüchtigte politische Maschinerie stark und die Straßenbanden und Geschäftemacher allerorten. Trotz dieser Schwierigkeiten brachte es sein Vater fertig, genügend Geld nach Hause zu bringen, um seine Familie zu ernähren. Und als Friseur tat er es ehrlich und unabhängig, was zu jener Zeit und an jenem Ort selten genug vorkam.
Gabrieles Sohn trat niemals in die Fußstapfen seines Vaters; die Verführungen waren einfach zu groß. Ganz Brooklyn schien sich dem einen Ziel hinzugeben, die junge männliche Bevölkerung vom Pfad der Tugend abzubringen.
Nachdem er mit vierzehn von der Schule geworfen worden war (wegen eines Kampfes mit seiner Lehrerin), wurde er zum Laufburschen für den lokalen Bandenchef. Einer von vielen Niedrigsten der Niedrigen. Doch er lernte rasch: von menschlichen Lastern und was man tun mußte, um daran teilzuhaben, vom Geldverdienen, von Loyalität und am meisten natürlich von dem, was die Menschen in seiner Umgebung dem Boß entgegenbrachten: Respekt. Eine Eigenschaft, die weder seinem Vater noch ihm gegenüber niemand jemals gezeigt hatte. Respekt war der Schlüssel zur Welt. Ein Mann, der respektiert wurde, hatte alles erreicht. Er war ein Fürst unter den Menschen.
Während dieser kriminellen Lehrjahre wurde der Keim seiner eigenen Zerstörung gesät – und ironischerweise durch ihn selbst. In einem der vielen schmutzigen Bordelle, in denen Jungen seines Alters und seiner gesellschaftlichen Herkunft regelmäßig verkehrten, zog er sich die Syphilis zu. Wie die meisten Menschen überlebte er das erste Stadium, und die Geschwüre auf seinen empfindlichen Genitalien verheilten innerhalb weniger Wochen. Auch das zweite Stadium machte ihm kaum mehr zu schaffen, eine gleichermaßen kurze Zeit, in der er an einer, wie er sich selbst einredete, besonders heftigen Grippe litt.
Hätte er einen Arzt aufgesucht, würde er erfahren haben, daß es das dritte Stadium der Krankheit war, das sich bei einem Fünftel der Infizierten als tödlich erwies, indem es die Stirnlappen des Gehirns zerfraß. Doch nachdem das zweite Stadium vorüber ist, scheint die bösartige Krankheit für lange Zeit zu schlafen, manchmal Jahrzehnte, während derer sie ihr Opfer in einer trügerischen Sicherheit wiegt. Er sah keinen Grund darin, die demütigende Erkenntnis mit einem anderen Menschen zu teilen.
Paradoxerweise war es genau diese Krankheit, die Schuld war an seinem unerbittlichen Aufstieg im Verlauf der folgenden fünfzehn Jahre. Wegen der Art und Weise, wie die Syphilis das Gehirn angreift, verstärkt sie zunächst die persönlichen Charaktereigenschaften ihres Opfers. Charaktereigenschaften, die in diesem Fall durch das Brooklyn der Jahrhundertwende entscheidend geprägt worden waren und die im wesentlichen aus Geringschätzung, Feindseligkeit, Jähzorn in Verbindung mit einer Neigung zur Gewalttätigkeit, Gier, Treulosigkeit und Arglist bestanden. Ganz ausgezeichnete Überlebensqualitäten für diesen speziellen Stadtteil von New York, doch in einer mehr zivilisierten Umgebung machten sie ihn zum Außenseiter. Einem Barbaren in der Stadt.
Um 1920 herum zog er nach Chicago, und innerhalb weniger Monate war er tief in eines der herrschenden Syndikate verstrickt. Bis zu jener Epoche hatten Syndikate sich lediglich mit Wettbüros und Bordellen und Spielklubs befaßt und damit eine Menge hartes Geld verdient. Und vielleicht wäre es auch bei dieser relativ unbedeutenden Kriminalität geblieben – wenn nicht genau in jenem Jahr die landesweite Prohibition in Kraft getreten wäre.
Flüsterkneipen schossen wie Pilze aus dem Boden, und Hinterhofbrauereien machten glänzende Geschäfte. Geld floß in Strömen in die Kassen der Syndikate, Millionen und Abermillionen einfach verdienter schmutziger Dollars. Dadurch erlangten die Syndikate eine Machtbasis, von der sie sich niemals hätten träumen lassen. Sie kauften die Polizei, sie bestachen den Bürgermeister und den größten Teil der Stadtverordneten, sie setzten die Zeitungen unter Druck und verlachten das Gesetz. Doch Geld brachte auch seine eigenen speziellen Probleme mit sich. Jeder konnte sehen, wie gigantisch der Markt war, wie gewinnbringend.
Und jeder wollte sich seinen Teil vom Kuchen abschneiden.
Und das war der Zeitpunkt, an dem er schließlich zum Zuge kam. Ganze Stadtteile von Chicago degenerierten zu Kampfgebieten, als Banden und Syndikate und Gangsterbosse wie Löwen um
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