Seelengesaenge
Labyrinth. »Scheiße«, murmelte sie leise. Die beiden Hangars des Aerodroms waren deutlich in einer halben Meile Entfernung zu sehen, doch man mußte schon ein Einheimischer sein, um den Weg dorthin zu finden.
»Wissen die anderen auch, daß wir bei Ihnen sind?« fragte Carmitha.
»Wahrscheinlich nicht. Jedenfalls nicht auf eine so große Distanz. Wenn wir allerdings noch näher herankommen, werden sie es bemerken.«
Genevieve zupfte ängstlich an Titreanos Ärmel. »Sie werden uns nicht finden, oder? Bitte sagen Sie, daß die anderen uns nicht finden!«
»Selbstverständlich nicht, kleine Lady. Ich habe mein Wort gegeben, Euch nicht im Stich zu lassen.«
»Die ganze Geschichte gefällt mir nicht«, sagte Carmitha. »Wir sind viel zu auffällig. Und wenn die anderen feststellen, daß wir zu viert in diesem Wagen sitzen, dann wissen sie auch, daß Titreano mit Nicht-Besessenen unterwegs ist«, sagte sie vorwurfsvoll an Titreanos Adresse.
»Aber wir können jetzt nicht mehr umkehren!« beharrte Louise mit hoher, fast panischer Stimme. »Wir sind so nah! Wir werden niemals eine zweite Chance bekommen!«
Carmitha wollte einwenden, daß vielleicht nicht einmal ein Pilot im Aerodrom wäre – ganz zu schweigen von der Aeroambulanz, die sie bisher auch noch nicht entdeckt hatte. Aber vielleicht stand die Maschine in einem Hangar. Andererseits, wenn sich ihr Glück weiterhin so schnell dem Ende zu neigte …
Die beiden Schwestern waren offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Sie sahen schrecklich aus, schmutzig und erschöpft, dicht davor, in Tränen auszubrechen – trotz aller Entschlossenheit, die Louise nach außen hin demonstrierte.
Carmitha stellte überrascht fest, wie sehr sie die ältere der beiden Kavanagh-Töchter inzwischen zu respektieren angefangen hatte.
»Ihr könnt nicht umkehren, nein«, sagte Carmitha. »Aber ich kann. Wenn ich den Wagen wende und zurück in die Wälder fahre, dann denken die Besessenen, daß wir vor Titreano davonlaufen.«
»Nein!« sagte Louise zutiefst erschrocken. »Wir sind zusammen, und wir bleiben zusammen. Wir haben nur uns selbst! Außer uns ist keine Menschenseele mehr übrig auf dieser Welt!«
»Das stimmt nicht«, widersprach Carmitha. »So etwas dürfen Sie nicht einmal denken! Außerhalb von Kesteveen geht das Leben bestimmt ganz normal weiter. Und wenn Sie erst Norwich erreicht haben, sind alle gewarnt.«
»Nein«, murmelte Louise, doch in ihrer Stimme schwang nicht mehr ganz soviel Überzeugung mit.
»Sie wissen, daß Ihnen keine andere Wahl bleibt«, fuhr Carmitha fort. »Im Gegensatz zu mir. Verdammt, ich bin sogar ein gutes Stück besser dran, wenn ich allein fahre. Ich kenne mich aus, ich kann mich in den Wäldern verstecken, und die Besessenen werden mich niemals finden! Das kann ich aber nur, wenn ich mich nicht um Sie drei kümmern muß. Sie wissen doch selbst, wie sehr wir Zigeuner mit dem Land verschmolzen sind, Louise.«
Louises Mundwinkel sanken herab.
»Oder etwa nicht?« hakte Carmitha nach. Sie wußte, daß sie selbstsüchtig war; sie wollte einfach nicht mit ansehen müssen, wie ihre zerbrechlichen Hoffnungen sich in Luft auflösten, sobald sie das Aerodrom erreicht hatten.
»Ja«, sagte Louise schließlich fügsam.
»Gutes Kind. In Ordnung, dieser Abschnitt der Straße ist breit genug, um den Wagen zu wenden. Sie drei steigen jetzt besser ab.«
»Seid Ihr Euch Eurer Sache sicher, Lady?« erkundigte sich Titreano.
»Absolut. Aber ich erinnere Sie noch einmal an Ihr Versprechen, den beiden dort zu helfen.«
Er nickte ernst und sprang auf die Straße hinab.
»Genevieve?«
Die kleinere der beiden Kavanagh-Töchter blickte scheu zu Carmitha auf. Sie kaute mit den Zähnen auf ihrer Unterlippe.
»Ich weiß, daß wir nicht besonders gut miteinander ausgekommen sind, und das tut mir wirklich leid. Ich möchte dir das hier schenken.« Carmitha griff nach hinten und löste den Verschluß einer Halskette. Der Anhänger, eine silberne Kugel, die im roten Licht glänzte, bestand aus einem feinen Maschengewebe. Es war verbeult und eingedrückt, doch durch die Lücken waren ein paar filigrane braune Zweige zu erkennen. »Es stammt von meiner Großmutter; sie hat es mir geschenkt, als ich ungefähr in deinem Alter war. Es ist ein Talisman, der böse Geister abhalten soll. Das ist Heidekraut dort drin, siehst du das? Es wuchs auf der Erde, in der Zeit vor den Armadastürmen. Da drin ist richtige irdische Magie gespeichert.«
Genevieve hielt die Kugel
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