Seelengift
Mörder erst danach auf die Idee gekommen ist, es so zu arrangieren.«
Gruber sah sie wütend an. »Und was, bitte schön, soll mir dieser Mist sagen?«
Clara hob die Schultern und verzog unglücklich das Gesicht. »Ich habe keine Ahnung. Wenn Sie es nicht wissen …«
Gruber schnaubte.
Clara versuchte es erneut: »Es muss etwas mit Gerlinde Ostmann zu tun haben. Ist Ihnen vielleicht irgendetwas aufgefallen damals, etwas, das Sie vielleicht für nicht so wichtig gehalten haben? Irgendeine Ungereimtheit, eine Sache, die nicht dazu gepasst hat?«
Gruber überlegte. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid. Mir fällt nichts ein. Es war eine Routineangelegenheit. Sehr traurig, aber nicht ungewöhnlich. Ich habe mich ziemlich über diese unsägliche Kaltschnäuzigkeit aufgeregt, aber sonst…?« Er schüttelte erneut den Kopf.
»Kaltschnäuzigkeit«, wiederholte Clara nachdenklich. »Den Mörder Ihrer Frau könnte man auch als kaltschnäuzig bezeichnen, oder?«
Gruber nickte langsam. Sie sahen sich an und dachten beide das Gleiche: Auch wenn sie es nicht beweisen konnten, waren sie doch beide überzeugt davon, dass Papa Joke Irmgard Grubers Mörder war.
SIEBZEHN
Zunächst klang das ziemlich erfolgversprechend: Sie hatten den Namen des vermutlichen Mörders. Allerdings war es nur der Spitzname, und sie wussten über ihn nicht mehr, als dass er bis vor einem Jahr relativ regelmäßig in einer bestimmten Kneipe verkehrt hatte, gerne Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat aß und gut Akkordeon spielte. Wenn Claras Treffen mit den Stammtischbrüdern Oscho und Waggi morgen Abend nicht noch ein paar Details erbrachte, war das mehr als dürftig, um ihn ausfindig zu machen, mit oder ohne Mitwirkung der Polizei.
Gruber hatte ihre Hoffnungen auf Letzteres rasch zunichte gemacht: Auch wenn sie mit ihrer Theorie einer Botschaft für Gruber kämen: Kommissarin Sommer würde diese Argumentation nicht ausreichen, um eigene Ermittlungen anzustellen. Sie würde es lediglich als einen taktischen Versuch ansehen, vom eigentlichen Täter, sprich Gruber, abzulenken.
Und selbst wenn es ihnen gelänge, die Kollegen im Hinblick auf den Fall von Gerlinde Ostmann zu mobilisieren und den Mann deswegen zu suchen, so war die Wahrscheinlichkeit, dass die Beamten mit schnellen Ergebnissen aufwarten könnten, eher gering: Die Sache war über ein Jahr alt, und der Mann war seitdem in der Kneipe nicht wieder aufgetaucht. Vielleicht war er umgezogen, und anderswo würde ihn niemand unter dem alten Spitznamen kennen. Hinzu kam, dass es sich bei dem Fall Gerlinde Ostmann wohl »nur«
um unterlassene Hilfeleistung handelte und das bei einem Opfer, das ohnehin gestorben wäre. Das spielte zwar für die Strafbarkeit des Täters keine Rolle, bei der Frage, wie dringlich in so einem Fall nach über einem Jahr noch einmal ermittelt werden würde, jedoch durchaus.
Clara seufzte, und sie spürte, wie ihre Hoffnung sank, Papa Joke schnell ausfindig zu machen. Sie hatte bei ihrem Mittagessen Gruber doch nichts von der Todesanzeige erzählt und würde die Sache einstweilen noch für sich behalten. Am Freitag war Irmgard Grubers Beerdigung, und Clara hatte sich eingeredet, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, ihm diese anonyme Drohung zu präsentieren. Ihr hatte es schon gereicht, seine Erschütterung zu sehen, als ihm klar geworden war, dass er in der Vorstellung des Mörders womöglich eine Mitschuld am Tod seiner Frau tragen könnte. Sie wollte verhindern, dass er sich auch noch für ihre Sicherheit verantwortlich fühlte und sie womöglich sogar davon abzuhalten versuchte, weiter nach dem Mörder zu suchen. Zumindest redete sie sich ein, dass dies der Hauptgrund für ihr Schweigen war.
Doch es gab noch einen zweiten, heimlichen, sich selbst kaum eingestandenen Grund, warum sie es nicht über sich gebracht hatte, ihm diese Anzeige zu zeigen. Es war albern, irrational und auf eine erschreckende Weise abergläubisch, aber sie hatte tatsächlich Angst, darüber zu sprechen. So, als ob sich die Gefahr eher realisieren könnte, wenn man sie aussprach. Ihr Magen krampfte sich schon bei der Vorstellung zusammen, sagen zu müssen: »Ich habe meine eigene Todesanzeige bekommen.« Es war die Angst, mit diesen Worten etwas Endgültiges, etwas Unabwendbares herbeizurufen. So müssen Flüche funktionieren, dachte sie verzagt und konnte
sich trotz aller rationalen Argumente nicht gegen diese Ängste wehren.
Stattdessen hatte sie noch einmal
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