Seelengift
ihre Absicht bekräftigt, am Donnerstag mit dem Stammtisch zu sprechen, in der Hoffnung, selbst ein bisschen mehr über den Mann herauszufinden. Gruber bot sofort an mitzukommen, und eigentlich hätte Clara das Angebot liebend gern angenommen. Doch sie bezweifelte, dass die Gäste der Kneipe bei Grubers Anwesenheit genauso gesprächig wären, wie der Wirt es bei ihr gewesen war. Es würde dem Ganzen einen zu offiziellen Anstrich geben, wenn sie mit einem Kriminalkommissar auftauchte. Im Übrigen bekam Gruber Besuch von Irmgards Schwester und deren Mann, die für die Beerdigung aus Niederbayern anreisten. Gruber machte zwar ein Gesicht, als ob er auf diesen Besuch liebend gerne verzichten könnte, was Clara durchaus verstehen konnte, dennoch blieb sie hart. Sie beharrte darauf, allein in diese Kneipe zu gehen, und appellierte gleichzeitig an das Verantwortungsbewusstsein Grubers seinem Sohn gegenüber, den er unmöglich am Abend vor der Beerdigung allein lassen könne. Als Gruber schließlich nachgab, verspürte Clara dennoch keinerlei Befriedigung darüber, sich durchgesetzt zu haben: Im Gegenteil, das flaue Gefühl im Magen, das sie schon die ganze Zeit verspürt hatte, wurde stärker, und sie fragte sich beklommen, ob sie nicht einen großen Fehler machte.
Ihr Unbehagen war auch noch bestehen geblieben, nachdem sie sich von Walter Gruber verabschiedet hatte und zurück in die Kanzlei gegangen war. Vor der Tür war sie einen Moment stehen geblieben und hatte den Schriftzug am Kanzleischild betrachtet: Niklas & Allewelt . Sie würde sich ein neues Schild besorgen müssen. Und eine neue Sekretärin einstellen.
Und einen neuen Sozius finden…O nein, keinen neuen Sozius, jedenfalls nicht sofort. Der Gedanke daran, irgendeine ambitionierte Junganwältin oder einen neunmalklugen Juristen frisch von der Uni und bar jeder Erfahrung einstellen zu müssen, schreckte sie ab. Sie wusste, wie naiv und dünnhäutig sie selbst am Anfang gewesen war. Nicht dass sich an ihrer Dünnhäutigkeit in den Jahren entscheidend etwas geändert hatte, aber es war Routine dazugekommen. Routine, Erfahrung und ein wenig Distanz, zumindest in den Alltagsfällen, und das wog fehlende Kaltschnäuzigkeit doch manchmal auf.
Kaltschnäuzigkeit. Schon wieder dieses Wort. War es in ihrem Fall überhaupt die treffende Beschreibung für den Mörder? Clara war sich nicht ganz sicher. Es war eines dieser Wörter, die einem sofort einfielen, wenn man die Taten betrachtete. Aber stimmte es auch? Man war so schnell mit Adjektiven wie kaltblütig, gefühllos oder grausam bei der Hand, wenn es um Mord ging. Damit schuf man sich eine Distanz zu der Person, die die Tat begangen hatte: »So wie der oder die bin ich nicht. Ich bin anders. Ich könnte so etwas niemals tun …« Das war natürlich falsch. Clara war immer schon der Ansicht gewesen, dass jeder Mensch in der Lage war, einen anderen Menschen zu töten, wenn nur die Umstände so waren, dass ihm keine andere Wahl blieb. Und die Umstände waren nicht immer äußere Umstände, oft waren sie nur eingebildet, existierten nur im Kopf des Täters. Das war es, was sie finden mussten, das war der Schlüssel zum Motiv des Mörders: Warum hatte Irmgard Grubers Mörder geglaubt, keine andere Wahl zu haben? Was war der Auslöser für diese Ansicht gewesen?
Clara hatte mit den Schultern gezuckt und war endlich in die Kanzlei zurückgegangen. Müßige Fragen, auf die es keine
Antwort gab, solange sie den Täter nicht kannten. Und selbst wenn sie ihn finden sollten, konnte es gut möglich sein, dass er ihnen diese Antwort schuldig blieb.
Der Nachmittag schleppte sich dahin. Clara hatte zweimal bei Mick angerufen, jedes Mal jedoch nur die Mailbox erreicht. Willi war bei einem Auswärtstermin, und Linda verschanzte sich hinter ihrer Tüchtigkeit. Clara hatte keine Lust, mit ihr zu reden, keine Lust, darüber nachzudenken, was Willi ihr an diesem Morgen eröffnet hatte, und vor allem, auf welche Weise er es getan hatte. Allein der Gedanke an das Gespräch, an sein Herumgedruckse und seine ebenso hilflosen wie vielsagenden Blicke zu der restlos verstummten Linda ließen wieder heiße Wut in ihr hochsteigen. Wie hatte er das nur tun können? Warum hatte er sich nicht die Zeit genommen, ordentlich und unter vier Augen mit ihr zu sprechen? Sie wusste, warum, und das war das Bitterste an der ganzen Geschichte: weil er zu feige war. Diese Erkenntnis war wie ein Schlag ins Gesicht und hatte in ihr einen derart
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