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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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lässt sich einfach nicht helfen.«
    »Viele Süchtige begreifen den Ernst der Lage erst, wenn sie vollkommen allein dastehen«, sagte ich. Eine Weisheit, die ich aus einer Dokumentation auf dem Health Channel hatte. »Manchmal müssen sie erst ganz unten sein, bevor sie sich wieder auf den Weg nach oben machen können.«
    »Dafür ist es zu spät.«
    Sie wusste also, wie es um ihre Mutter stand.
    Ihre nächsten Worte bestätigten, dass ich mit meiner Vermutung richtiglag: »Als ich sie das letzte Mal in die Notaufnahme brachte, haben die Ärzte eine schwere Leberzirrhose und chronische Pankreatitis bei ihr festgestellt. Ihr Nervensystem ist mittlerweile so stark angegriffen, dass ihr wahrscheinlich nur noch wenige Monate bleiben.«
    Es war eine grausame Wahrheit, doch ebenso grausam war das, was sie nicht aussprach, was ich jedoch zwischen den Zeilen hörte. Sie hatten kein Geld für eine Behandlung. Nicht dass Mrs MacNamara dadurch geheilt werden konnte, aber die richtigen Medikamente würden ihr Zeit erkaufen und die schlimmsten Symptome lindern.
    »Jules, wenn ihr Geld für eine Behandlung braucht, ich kann …«
    »Nein!«
    »Du brauchst dir um eine Rückzahlung keine Sorgen machen«, sagte ich. »Das Geld, das ich tatsächlich habe, stammt von den Engeln, und die haben genug. Und das, was ich zusätzlich … benutze, existiert gar nicht wirklich.«
    Obwohl sie mich im Dunkeln nicht sehen konnte, wandte sie sich mir zu. »Willst du damit sagen, dass du die Leute gar nicht wirklich bezahlst? Das Sanatorium? Die Flugtickets?«
    »Sie denken nur, dass ich es getan hätte.«
    »Machen das alle Engel so?«
    »Nein, nur ich.«
    »Und du fragst dich, warum ich dich als seltsam bezeichne.« Zu meinem Erstaunen war es eine reine Feststellung, in der kein Urteil über meinen Umgang mit Finanzen mitschwang. Plötzlich schüttelte sie den Kopf. »Die Ärzte sagen, dass jede Behandlung das Unvermeidliche nur weiter hinauszögern und ihr Leiden vergrößern würde. Wenn sie betrunken ist, spürt sie zumindest den Schmerz nicht so sehr. Ein wenig helfen wohl auch die Schmerzmittel.«
    Ihre letzten Worte klangen so kalt und abgeklärt, dass sie ebenso gut von mir hätten sein können. Doch Jules war nicht wie ich, was mir der leise, gebrochene Laut, der über ihre Lippen schlüpfte, sofort klarmachte. Ich kniff die Augen zusammen, um ihr Gesicht deutlicher erkennen zu können, da sah ich die Tränen, die über ihre Wangen liefen.
    »Weißt du, was das Schlimmste ist?« Jetzt konnte sie nicht länger verbergen, dass sie weinte. Ihre Stimme zitterte und die Worte kamen nur gepresst aus ihrem Mund. »Das Schlimmste ist, dass ich mir manchmal wünschte, sie würde endlich sterben und mir mein Leben zurückgeben. Sie …«
    Jedes weitere Wort erstickte. Als ich dieses Mal die Armenach ihr ausstreckte, entzog sie sich meiner Berührung nicht. Sie ließ zu, dass ich sie an mich zog, sie festhielt und ihr über den Rücken strich. Die Tränen kamen jetzt immer heftiger, sie zitterte am ganzen Leib, erdrückt vom Elend und dem schlechten Gewissen, das sie schon sehr lang mit sich herumzutragen schien.
    Wo waren die Schutzengel, die ihrem Leben den richtigen Dreh gaben und dafür sorgten, dass sie nicht noch weiter in der Scheiße versank, aus der sie sich jeden Tag an den eigenen Haaren herauszuziehen versuchte? Waren wir – sie – die Schutzengel – tatsächlich so überlastet, dass wir uns nur noch um die kümmern konnten, die kurz davor waren, den Löffel abzugeben (und nicht einmal da schafften wir alle), während jene, deren Leben ein Haufen Dreck war, auf der Strecke blieben? Ein schöner Sauhaufen war das, dem sie mich da zugeteilt hatten.
    »Dich trifft keine Schuld«, sagte ich, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte. Ich hielt sie noch immer im Arm und hatte auch nicht vor, sie so schnell wieder loszulassen. »Es ist vollkommen verständlich, dass du so empfindest, nach allem, was dir deine Mutter angetan hat.«
    »Angetan?« Sie setzte sich auf, ohne jedoch von mir abzurücken.
    »Diese Frau hat dich all die Jahre ausgenutzt, während sie sich in ihrem Selbstmitleid und ihrer Schwäche gesuhlt hat. Du hast keine Schuld daran, dass es dir nicht gelungen ist, sie vom Saufen abzubringen.«
    »Ich hätte es schaffen müssen.«
    »Du warst ein Kind, Jules! Es ist nicht deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern. Sie hätte sich verdammt noch mal um dich kümmern müssen. Stattdessen hat sie dir die Verantwortung für euer beider

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