Seelenglanz
sie seine Hände warm auf ihrem Gesicht und gleich darauf seine Lippen auf ihren. Erneut war sein Kuss sanft, erfüllt von dem Versprechen, zurückzukommen.
»Ich lasse dich nicht im Stich«, flüsterte er und gab sie frei.
Sie hörte ein leises Klicken und wusste, dass es der Schlüssel war. Als er die Tür aufschob, kroch ein Streifen helles Grau durch den Spalt in die Kammer. Das erste Anzeichen des anbrechenden Tages.
»Schließ ab.« Kyriel schlüpfte hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Plötzlich wieder von Dunkelheit umgeben tastete Julesnach dem Schlüssel und drehte ihn herum. Um nicht die Orientierung zu verlieren und schnell reagieren zu können, falls Kyriel bei seiner Rückkehr verfolgt würde, setzte sie sich neben die Tür. Immer wieder tastete sie nach dem Schlüssel, um sicherzugehen, dass sie ihn selbst in der Finsternis problemlos finden würde.
Jetzt, da sie allein war, veränderte sich die Dunkelheit. War sie zuvor noch wie ein Schutzpanzer gewesen, hinter dem sie sich verstecken konnte, während sie ihre Geschichte erzählte, wirkte sie auf einmal bedrohlich und kalt.
Von Zeit zu Zeit glaubte sie etwas von draußen zu hören. Jedes Mal setzte sie sich kerzengerade auf, hielt den Atem an und lauschte, doch da war nichts. Nur ihre Fantasie, die Purzelbäume schlug. Zu sehr fühlte sie sich an den finsteren Keller erinnert, in dem sie das letzte Mal vor Shandraziel Zuflucht gesucht hatte. Auch jetzt zog sich die Zeit endlos dahin. Sie wusste nicht, wie lange Kyriel schon fort war oder wie lange er wegbleiben würde, ehe er zu der Überzeugung gelangte, dass es sicher war. Sie wünschte sich jedoch, dass es bald passierte.
Müde und ausgelaugt legte sie den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Ihre Gedanken kreisten um den vergangenen Abend, das gemeinsame Essen, den Spaß, den sie auf dem Minigolfplatz gehabt hatten, und nicht zuletzt um Kyriels Kuss.
Warum tust du das? Sie saß wieder mit Kyriel beim Essen und stellte dieselbe Frage, die sie ihm schon vorher gestellt hatte.
Weil ich dir zumindest das geben kann , erwiderte er. Ein paar schöne Stunden, bevor alles vorbei ist.
Vorbei? Was meinst du mit vorbei?
Bevor er antworten konnte, fuhr eine eisige Klinge von hinten in seinen Leib und riss ihn in Stücke. Mit einemdumpfen Laut prallte das, was von ihm übrig geblieben war, auf den Tisch.
Jules schreckte so heftig auf, dass sie sich den Kopf an einem Regal stieß. Fluchend rieb sie sich die schmerzende Stelle und versuchte ihren Herzschlag wieder zu beruhigen, als sie denselben dumpfen Laut, mit dem Kyriel auf der Tischplatte aufgeschlagen war, noch einmal vernahm.
Ein Klopfen an der Tür.
Vorsichtig und so lautlos wie möglich schob sie sich näher heran und lauschte. Dass es kein Sichtfenster gab, hatte nicht nur Vorteile.
»Jules, ich bin es«, erklang Kyriels vertraute Stimme von der anderen Seite. »Mach auf.«
Ob Shandraziel seine Stimme verstellen konnte?
Kyriel schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Jules, ich bin nicht dieser Trottel. Soll ich dir zum Beweis etwas von dem sagen, was du mir erzählt hast? Oder willst du was über deine besoffenen Ratten hören?«
Erleichtert tastete sie nach dem Schlüssel und öffnete die Tür.
»Die Luft ist rein«, erklärte Kyriel. »Verschwinden wir.«
24
Jules folgte mir aus dem Kühlraum und dem Vorratslager hinaus auf den Gang. Draußen war die Schwärze der Nacht ersten Grautönen gewichen, bis zum Sonnenaufgang war es nicht mehr lange hin. Allmählich erwachte auch das Wellford Palms zum Leben. Die Frühschicht aus der Küche hatte bereits ihren Dienst angetreten und schwirrte geschäftig zwischen Töpfen, Pfannen und Schneidbrettern hin und her.Glücklicherweise nahm niemand von uns Notiz, als wir dem Versorgungsgang zurück zum Treppenhaus folgten und von dort durch eine Seitentür ins Parkhaus verschwanden.
»Was ist mit unseren Sachen?«, wollte Jules wissen, als ich ihr die Wagentür öffnete.
»Zu gefährlich.« Ich erwartete, dass Shandraziel jemanden zurückgelassen hatte, der unsere Zimmer im Auge behalten und auf unsere Rückkehr warten sollte. »Wir werden uns unterwegs alles Nötige besorgen.«
Ein paar Minuten später reihten wir uns in den Verkehr auf der I-4 ein, die Orlando in zwei Hälften teilte, und befanden uns auf den Weg nach Westen. Wir würden uns ein Motel in Kissimmee suchen, weit genug vom International Drive entfernt, aber immer noch unmittelbar vor den Toren Orlandos. Sobald ich
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