Seelenglanz
über sie wissen. Über ihr Leben und darüber, wie sie tickte.
»Weißt du, was mich wundert?«, durchbrach ich schließlich die Stille.
»Dich? Nein. Du bist ein Buch mit sieben Siegeln für mich.«
Ihre Worte entlockten mir ein Grinsen, trotzdem – und entgegen meiner sonstigen Gewohnheit – wurde ich sofort wieder ernst. »Ich war nie besonders freundlich zu dir, dennoch scheinst du mich irgendwie zu mögen. Warum?«
»Weil du der Beweis bist, dass es Hoffnung gibt.«
Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. »Was?«
»Du bist ein Engel«, sagte sie. »Ein Wesen Gottes! Wenn Engel existieren, dann gibt es auch einen Gott – oder zumindest eine höhere Ordnung. Und wenn dem so ist, muss es irgendwo in diesem verfluchten Leben mit all den schrecklichen Dingen, die Tag für Tag überall auf der Welt geschehen, einen Sinn geben.«
Einen Moment lang hatte es mir tatsächlich die Sprache verschlagen. Dass sie in mir etwas Besonderes sah, ließ mir den Atem stocken. Bisher hatten in mir alle nur einen verdammt guten Seelensammler oder ihren Feind gesehen. Aber noch nie etwas Besonderes. In ihren Augen war ich ein erhabenes Wesen. Jemand, der Gutes tat. Dabei tat ich daserst, seit ich sie kannte, und eher aus der Not heraus als von einem inneren Drang getrieben. Es war schließlich meine Schuld, dass sie in Shandraziels Visier geraten war. Ohne mich hätte sie dieses Problem nicht. Gut, ihrer Mutter hätte ich nicht helfen müssen, andererseits war mir keine andere Wahl geblieben. Wenn ich mich nicht um sie gekümmert hätte, wäre Jules nicht mit mir gekommen.
»Glaub mir«, sagte ich schließlich. »Ich bin nicht halb so göttlich, wie du annimmst, und den meisten meiner Mithoffnungsträger würde ich regelmäßig am liebsten den Kopf abreißen.«
»Ich weiß eigentlich kaum etwas über dich, außer dass du anders bist, als du selbst glaubst.«
»Muss ich das jetzt verstehen?«
»Eines Tages wirst du das vielleicht.«
Anders, als ich selbst glaubte. Was sollte das heißen? Ich hatte meine Selbsteinschätzung eigentlich immer für ziemlich realistisch gehalten. Ich kannte meine Fähigkeiten und ihre Grenzen, und ich achtete darauf, sie nicht zu überschreiten, sie aber bis ins Letzte auszureizen, wenn es sein musste.
»Es ist noch nicht lange her, da war ich wie Shandraziel.« Ich wusste nicht, warum ich das sagte, es ging sie nichts an, und eigentlich wollte ich nicht einmal über meine Vergangenheit sprechen, denn alles, was ich ihr über meine vermeintliche Läuterung erzählen würde, war nichts weiter als eine große Lüge, ein geschickt inszeniertes Schauspiel, mit dem ich nichts weiter bezweckte, als meine Arbeit für Luzifer voranzutreiben. Trotzdem sprach ich weiter, erzählte ihr davon, wie ich an Luzifers Seite für bessere Zustände gekämpft hatte und wie wir dafür schließlich als Rebellen abgestraft und uns die Flügel genommen worden waren. In wenigen Sätzen malte ich ihr ein Bild von den Jahrtausenden,die ich auf der Erde unter den Menschen verbracht hatte, während wir uns darauf vorbereiteten, unseren Kampf wieder aufzunehmen. Ich berichtete von meiner Rivalität mit Shandraziel und davon, dass diese nun in offene Feindschaft umgeschlagen war. Schließlich erzählte ich ihr von Rachel, wie ich mich in ihr Vertrauen geschlichen hatte, um mein Ziel zu erreichen, wie ich sie davon zu überzeugen versucht hatte, die Riesen aus dem Stein zu befreien, und wie ich mich im letzten Kampf doch für die richtige Seite – die Seite der Engel – entschieden hatte. Die Lüge fühlte sich bitter an, und plötzlich wünschte ich mir, ich könnte ihr die Wahrheit sagen über mich und über meinen tatsächlichen Auftrag. Noch mehr jedoch wünschte ich mir, ich wäre tatsächlich die Person, die ich zu sein vorgab. Scheiß auf Luzifer! Ich konnte so viel mehr sein als sein Handlanger. Ich wollte so viel mehr sein. Am meisten aber wünschte ich mir, dass die Lügen endlich ein Ende hatten. Ich war es leid, jeden Tag aufs Neue nur eine Rolle zu spielen. Mein ganzes Leben war nichts weiter als das: eine Rolle, für die andere das Drehbuch schrieben.
Himmelarsch, ich wusste selbst nicht mehr, was ich wollte! Ich wusste nur, dass es so nicht weitergehen konnte.
»Du hast einen sehr langen Weg hinter dir«, sagte sie, nachdem ich geendet hatte. »Aber du hast dich richtig entschieden. Eure Motive mögen nur die besten gewesen sein, als ihr euren Kampf aufgenommen habt, aber euer Weg war
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