Seelenglanz
Maske.
Er hatte sich ihretwegen in Gefahr gebracht. Das hatte noch nie jemand für sie getan. Und sie wollte nicht zulassen, dass es noch einmal geschah. Womöglich konnte sie damit leben, wenn er zu den Gefallenen zurückkehrte und sie ihn niemals wiedersah. Wenn er jedoch starb … das würde sie nicht ertragen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, wie sie ihm helfen konnte. Sie hätte es längst erkennen müssen, denn tatsächlich gab es nur diesen einen Weg. Ansonsten war sie für ihn nur ein Klotz am Bein, den zu beschützen ihn nur zusätzlich in Gefahr brachte.
Entschlossen zu tun, was nötig war, schnappte sie sichden Autoschlüssel von dem Tisch, auf den sie ihn beim Hereinkommen geworfen hatte, und vergewisserte sich noch einmal davon, dass es Kyriel gut ging und er fest schlief. Kurz darauf saß sie im Wagen, auf dem Weg zu Walgreens, wo sie ihren Einkaufskorb mit allem vollpackte, was sie für ihr Vorhaben benötigte. Als die Verkäuferin ihr nicht die gewünschte Menge verkaufen wollte, bezahlte sie und fuhr zu einem weiteren Laden, bei dem sie den Rest holte.
Nicht einmal eine Dreiviertelstunde später saß sie mit ihren Einkäufen in ihrem eigenen Zimmer auf dem Bett, schraubte eine Flasche Wasser auf und stellte sie neben sich auf den Nachttisch.
Nach ihrer Wiedergeburt würde sie über ihre eigenen speziellen Fähigkeiten verfügen und musste Kyriel nicht länger zur Last fallen.
Dann kann ich auf mich selbst aufpassen.
Sie öffnete das erste Pillenröhrchen und stellte es auf den Nachttisch, drei weitere folgten. Wie gut, dass Rachel ihr so viel über die Wiedergeburt erzählt hatte. Ein brutaler Tod mit schlimmen Verletzungen kam für Jules nicht infrage, da ihr keine Zeit bleiben würde, ihren Körper heilen zu lassen. Sie musste danach sofort wieder auf den Beinen sein. Die Schlaftabletten waren der sicherste Weg. Schlimmstenfalls würde sie sich nach ihrer Wiedergeburt die Seele aus dem Leib kotzen, doch das war nichts im Vergleich zu gebrochenen Knochen oder durchtrennten Pulsadern.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, schüttete sie sich den Inhalt des ersten Röhrchens in den Mund und spülte ihn mit viel Wasser hinunter. Die Tabletten waren sperrig und schwerer zu schlucken, als sie gedacht hatte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich überwinden konnte, das nächste Röhrchen in Angriff zu nehmen. Dieses Mal teilte sie den Inhalt in mehrere Portionen auf, so ginges leichter, und kurz darauf hatte sie auch das dritte geleert. In der Hoffnung, dass sich die Tabletten dann schneller auflösen würden, trank sie die Wasserflasche bis auf den letzten Tropfen aus.
Mit der leeren Plastikflasche in der Hand saß sie auf der Bettkante und starrte sich im Spiegel an, der über der Kommode hing. Sie war blass, doch sie glaubte nicht, dass es an den Tabletten lag, so schnell konnten sie unmöglich wirken. Ihr zerzaustes schwarzes Haar schimmerte im Schein der Lampe wie das Federkleid eines unter die Räder gekommenen Raben, und die Ränder unter ihren Augen erinnerten sie an den wenigen Schlaf der letzten Tage.
Bald schon würde sie eine ganze Weile schlafen. Und wer weiß: Vielleicht brauchte ein Nephilim ja gar keinen Schlaf mehr.
Manchmal ging das Leben seltsame Wege. Selbst in den schlimmsten Zeiten hatte sie nie an Selbstmord gedacht, und jetzt, da sie das erste Mal die Aussicht auf einen guten Job und ein besseres Leben hatte, saß sie mit einer Überdosis Schlaftabletten im Magen da und wartete auf den Tod.
Es ist nicht endgültig , versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem hatte sie Angst.
Was, wenn nicht jeder Nephilim dazu bestimmt war, wiedergeboren zu werden? Wenn eine Mutter ihr Kind im Mutterleib verlieren konnte, konnte es doch auch bei der Wiedergeburt zu ungeahnten Zwischenfällen kommen. Verflucht, darüber hätte sie sich vielleicht ein bisschen früher Gedanken machen sollen! Aber hätte das etwas an ihrer Entscheidung geändert?
Vermutlich nicht.
Jules wusste nicht, wie lange sie schon dasaß und darauf wartete, dass die Wirkung endlich einsetzte, als ihre Hände zu zittern begannen. Anfangs kaum merklich, dann immerheftiger, bis sie die Flasche nicht länger halten konnte. Schließlich erfasste es auch ihren Körper. Wie unter starkem Schüttelfrost kauerte sie sich bibbernd auf dem Bett zusammen und wartete darauf, dass es aufhörte. Wartete auf die Dunkelheit und auf das Licht, das hoffentlich folgen würde.
Noch immer wollte
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