Seelenglanz
sie wieder an seine Seite zurück. Der Stich hätte ihn ebenso gut umbringen können. Wenn er nur ein wenig langsamer reagiert hätte …
Sie bekam das Bild einfach nicht aus dem Kopf, wie sich die Klinge in seinen Leib gebohrt hatte.
Wahrscheinlich wäre er auch ohne ihr Eingreifen mit der Frau fertiggeworden, auch wenn diese über die Kräfte eines Gefallenen verfügt hatte, trotzdem war Jules froh, dass sie dort gewesen war. Ein Umstand, den sie ihrem Misstrauen zu verdanken hatte.
Sie hatte im Wagen gesessen und am Sendersuchlauf des Radios gespielt. Der Motor war aus gewesen und mit ihm auch die Klimaanlage. Binnen weniger Minuten war es so heiß geworden, dass sie die Scheiben ein Stück heruntergefahren hatte, um zumindest ein bisschen Luft ins Wageninnere zu lassen, in dem sie sich immer mehr wie in einer aufgeheizten Blechdose vorgekommen war. Kyriel war ziemlich lange fort gewesen, und allmählich hatte sie sich zu fragen begonnen, ob alles in Ordnung war. Dann hatte sie die Frau gesehen, die in langer Hose und einer langärmligen Bluse auf Acht-Zentimeter-Stilettos über den Parkplatz geradewegs auf die Zimmertür zuging, hinter der Kyriel verschwunden war. Das alles wäre nicht weiter seltsam gewesen und lieferte sogar eine Erklärung für Kyriels langes Fortbleiben: Er hatte das Zimmer verlassen vorgefunden und wartete nun auf Ambers Rückkehr. Es war das Verhalten der Frau gewesen, das Jules stutzig gemacht hatte. Vor der Tür war sie ruckartig stehen geblieben. Aber nicht, um ihrenZimmerschlüssel aus der Tasche zu holen, den hatte sie längst in der Hand, sondern um sich die Sonnenbrille aufzusetzen. Eine Sonnenbrille, um ein schattiges Zimmer zu betreten?
Das hatte Jules keine Ruhe gelassen. Sie hatte mit sich gerungen und sich einzureden versucht, dass das nichts bedeuten musste. Es war schließlich nur eine dämliche Sonnenbrille! Letztlich hatte ihr Misstrauen gesiegt, und sie war zum Zimmer gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Tür war nur angelehnt gewesen und schon von Weitem hatte sie die Stimmen gehört. Stimmen, unter die sich die Geräusche schneller Bewegungen mischten. Beim Anblick des erhobenen Dolches hatte sie nicht lange nachgedacht, sich die Stehlampe gegriffen und zugeschlagen.
Es war seltsam, wie sehr die Ereignisse der letzten Tage sie und Kyriel zusammengeschweißt hatten. Er mochte manchmal ruppig sein, aber er war auch immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Und er schaffte es mit seiner bloßen Gegenwart, dass sie sich besser fühlte. Selbst als sie herausgefunden hatte, dass er noch immer für Luzifer arbeitete, und er ihr endlich die Wahrheit über sich und seinen Auftrag gesagt hatte, konnte das ihr Vertrauen in ihn nicht dauerhaft erschüttern. Da war etwas an ihm, etwas, was er selbst noch immer nicht erkannt hatte, was sie in ihrem Vertrauen bestärkte. Er wirkte zerrissen und schien selbst nicht zu wissen, wohin er gehörte. Das war kein guter Zeitpunkt, um ihn mit sich und seinen Gedanken allein zu lassen. Abgesehen davon wollte sie das gar nicht. Es fiel ihr schon schwer genug, sich vorzustellen, wieder in ihr früheres Leben zurückzukehren und ihn womöglich nie wiederzusehen. Selbst wenn sie sich entschied, für die Engel zu arbeiten, was sie wohl tun würde, war das noch lange keine Garantie, dass er weiterhin ein Teil ihres Leben sein würde. Was, wenndie Engel von seinem ursprünglichen Auftrag erfuhren? Sie würden ihm die Flügel ausreißen und ihn wieder zu einem Gefallenen machen. Falls sie ihn dann überhaupt jemals wiedersah, dann in dem Wissen, dass sie auf unterschiedlichen Seiten standen.
Kyriel war zynisch und sarkastisch. Er gab vor, sich für nichts anderes als sich selbst zu interessieren, doch Jules hatte auch andere Seiten an ihm erlebt. Seiten, deren Existenz er vermutlich vor ein paar Tagen selbst noch verleugnet hätte. Du meine Güte, sie hatte ihm sogar ihr Herz ausgeschüttet und ihm Dinge erzählt, die sonst niemand über sie wusste!
Sie liebte ihn nicht, dafür war es zu früh, aber sie spürte, dass sie ihn lieben könnte . Wenn er sie ansah, begann es in ihrem Bauch zu kribbeln, und ihre Fingerspitzen prickelten, erfüllt von dem Wunsch, ihn zu berühren. Jetzt gab sie diesem Wunsch nach. Vorsichtig berührte sie sein Gesicht und strich sanft über seine Wange. Die angespannte Muskulatur lockerte sich unter ihren Fingerspitzen, jegliche Härte wich aus seinen Zügen und zeigte ihr das Gesicht des Mannes hinter der
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