Seelenglanz
Ihre letzte Station vor der Obdachlosigkeit.
Sie war es so leid, sich jede Woche wieder den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie die nächsten sieben Tage über dieRunden kommen sollten. Seit ihre Mutter nicht mehr arbeiten konnte, hatte Jules das übernommen. Anfangs nur stundenweise neben der Schule, dann hatte sie den Unterricht immer öfter geschwänzt und schließlich die Schule ganz abgebrochen, um eine Vollzeitstelle anzunehmen. Letztes Jahr, sechs Jahre nachdem sie die Schule geschmissen hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie brauchte eine Zukunft – ein Ziel, an dem sie sich festhalten und auf das sie hinarbeiten konnte. Deshalb hatte sie sich für die Abendschule angemeldet, um ihren Schulabschluss nachzuholen und später studieren zu können. Sie wusste noch nicht, wie sie ein Studium finanzieren sollte, doch darüber wollte sie sich den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war. Erst einmal ging es darum, ihren Job, den Haushalt und den Lernstoff unter einen Hut zu bringen. Es war ein täglicher Balanceakt, der sie viel Kraft kostete. Kraft, die sie nur zu gerne aufbrachte, solange sie wusste, warum sie es tat: Sie wollte nicht enden wie ihre Mutter.
Jules hatte Bücher über Alkoholismus gelesen und feststellen müssen, dass die Kinder alkoholabhängiger Elternteile Gefahr liefen, früher oder später ebenfalls dem Alkohol oder Drogen zu verfallen. Ihr würde das nicht passieren! Niemals!
Elternteile . Wenn es wenigstens einen weiteren Elternteil gegeben hätte – einen Vater, der ihrer Mutter helfen konnte. Aber der hatte sich noch vor Jules’ Geburt aus dem Staub gemacht und sich nie wieder blicken lassen. Jules vermutete, dass er der Grund war, warum ihre Mutter überhaupt mit dem Trinken angefangen hatte. Danach zu fragen, war jedoch sinnlos, denn ihre Mutter weigerte sich, über ihn zu sprechen.
Während sie noch immer auf die Kaffeedose starrte, schrillte die Türklingel. Jules stellte die Dose auf den Tischund stand auf. Sie wusste, wer sie vor der Tür erwarten würde: Mrs Trepcyk, die ihr Geld wollte.
Jules durchquerte den Gang und öffnete die Tür, gerade als Mrs Trepcyk die Hand erneut nach der Klingel ausstreckte. Die Vermieterin war eine kleine, unscheinbare Frau mit braunem Haar und wächsernen Gesichtszügen, gekleidet in immer denselben abgetragenen roten Hausanzug.
»Hallo, Jules.« Wie üblich klang ihr Name aus Mrs Trepcyks Mund wie ein lang gezogenes Schüüüüüül.
Dschuls , korrigierte Jules in Gedanken, sagte aber nichts, da sie wusste, dass es ohnehin sinnlos war. »Wie geht es Ihnen, Mrs T?«
»Danke, danke, wie immer«, erwiderte die Vermieterin und schob sich an Jules vorbei in die Wohnung. Es gelang Jules gerade noch, ihr den Weg so weit zu verstellen, dass sie in die Küche gehen musste, statt geradewegs ins Wohnzimmer. »Es ist einfach ein Elend mit dieser Welt. Niemand ist mehr zuverlässig. Alle glauben sie, ich wäre die Wohlfahrt und würde ihnen einen Aufschub gewähren.«
»Aber das tun Sie nicht?«, erkundigte sich Jules vorsichtig.
»Natürlich nicht!«, gab Mrs Trepcyk zurück und ließ damit Jules’ Hoffnungen sinken. »Wenn ich einmal nachgebe, ist das der Anfang vom Ende. Das kommt nicht infrage!« Ihr Blick streifte über die Küche, die aus alten Möbeln, einem verkrusteten Herd und einer verkratzten Spüle bestand, ehe sie sich Jules wieder zuwandte. »Die Miete ist heute fällig.«
In ihrer Miene stand ein deutliches Her mit dem Geld geschrieben.
Jules schluckte. »Wissen Sie, Mrs Trepcyk, ich hatte mich gefragt, ob …«
»Du hast das Geld nicht.«
Ich hatte es. »Nicht heute. Aber in zwei Wochen bekommenSie es, das verspreche ich!« Sie würde Joe um ein paar Extraschichten bitten, dazu ein paar Unterrichtstage ausfallen lassen, um mehr arbeiten zu können. Den verpassten Stoff würde sie schon irgendwie aufholen.
Mrs Trepcyks Blick richtete sich auf die Spüle, neben der noch immer die leeren Schnapsflaschen standen. »Sie hat das Geld wieder versoffen, oder?«
»Nein!«, sagte Jules hastig, obwohl die Flaschen das Offensichtliche längst verraten hatten. »Wir haben gerade einen Engpass. Eine unvorhergesehene Anschaffung.«
»Das sehe ich.« Mrs Trepcyk drängte sich erneut an Jules vorbei. »Wo ist sie?«
Jules wollte sie aufhalten, doch bevor sie etwas sagen oder sich ihr in den Weg stellen konnte, hatte Mrs Trepcyk schon den Flur durchquert und stieß die Wohnzimmertür auf.
Auf der
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