Seelenglanz
Morgenstern nach seiner Meinung fragte. Und mit Sicherheit war Kyriels Urteil davon beeinflusst, wie hoch der Betreffende bei ihm im Kurs stand. Nachdem ihr Verhältnis noch nie von großer Sympathie geprägt war, hatte Kyriel es bisher immer wieder geschafft, dass ihm – Shandraziel – nicht nur weniger gute Aufträge zugeteilt worden waren, sondern ihm auch die längst fällige Beachtung des Morgensterns vorenthalten geblieben war.
In den letzten Jahren war Kyriel mehr als sonst unterwegs gewesen, und Shandraziel war es durch geschicktes Taktieren gelungen, die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen des Morgensterns zu erringen.
Aber etwas an Kyriels Abwesenheit stimmte Shandraziel misstrauisch. Der Morgenstern hatte zwar etwas von einem Auftrag gesagt, doch das konnte nicht alles sein. Wann immer Kyriel als Seelenfänger unterwegs gewesen war, hatte er sich dennoch regelmäßig blicken lassen – und wenn auch nur, um Bericht zu erstatten. Dass er nun seit Monaten geradezu verschollen war, passte nicht zu seiner Arbeitsweise.
Die zufällige Begegnung auf dem Dach dieser Frau hatte Shandraziels Misstrauen nur noch weiter angefacht. Die Nephilim, die bei ihrer Ankunft gerade das Haus verlassen hatte, war nicht von Bedeutung. Warum trieb Kyriel sich trotzdem in ihrer Nähe herum?
Immerhin war Kyriels Abwesenheit für ihn die perfekte Gelegenheit, sich beim Morgenstern ins rechte Licht zu rücken. Wenn es ihm gelang, seine Aufträge weiterhin zuverlässig zu erfüllen, sich unentbehrlich zu machen und gleichzeitig Kyriel in Misskredit zu bringen, konnte ihn das seinem Ziel ein ganzes Stück näher bringen: Kyriels Posten als rechte Hand des Morgensterns einzunehmen.
Shandraziel griff nach dem Zuckerstreuer und versenkte einen ganzen Haufen der weißen Kristalle in seiner Tasse, ehe er einen Schluck davon nahm. Lauwarm, bitter und viel zu dünn. Er zog eine Grimasse und stellte die Tasse auf den Tisch zurück, als die Kellnerin zurückkehrte.
»Hat es geschmeckt?«, erkundigte sie sich und deutete auf den halb leeren Teller, ohne Shandraziel dabei aus den Augen zu lassen.
Da er keine Lust hatte, sich länger mit ihr zu unterhalten, sagte er: »Packen Sie mir den Rest ein, Schätzchen.«
Das Schätzchen hatte er absichtlich auf geringschätzige Weise betont, dennoch brachte es ihre Augen zum Leuchten. Es war wirklich unglaublich, wie sich manche Menschen behandeln ließen!
Wenn er den Laden verließ, würde er die Tüte mit dem restlichen Essen irgendwo im Müll versenken. Bevor er jedoch ging, musste er noch etwas herausfinden.
Es war Zufall gewesen, dass er heute noch einmal auf Kyriel gestoßen war. Er war mit einem Auftrag unterwegs gewesen, ein hoffnungsloser, kleiner Ganove, dessen Seele er unter Vertrag nehmen sollte. Um in Ruhe mit dem Kerl sprechen zu können, hatte er sich in einem Hinterhof postieren wollen, von dem er wusste, dass seine Zielperson ihn später aufsuchen würde. Zu seinem Glück hatte er sich im Schatten eines Müllcontainers materialisiert. Andernfalls wäre er Kyriel in die Arme gelaufen.
Shandraziel war mehr als nur überrascht gewesen, seinen Konkurrenten im selben Hinterhof zu erblicken. Noch mehr hatte ihn jedoch die Gesellschaft erstaunt, in der er sich befand: Schutzengelsgesindel!
Das war also der Grund, warum er sich nicht mehr blicken ließ. Dieser Dreckskerl hatte die Seiten gewechselt. Er machte jetzt mit diesen geflügelten Bastarden gemeinsame Sache!
Shandraziels erster Impuls war es gewesen, aus seinem Versteck zu treten und diesem Verräter und seinem Komplizen das Licht auszublasen. Dann jedoch war ihm der Gedanke gekommen, dass sich die Situation zu seinen Gunsten nutzen ließ.
Um mehr über Kyriels plötzlichen Gesinnungswechsel herauszufinden, hatte er sich ihm an die Fersen geheftet, als dieser sich versetzt hatte. Er hatte das kleine, nur einen Sekundenbruchteil dauernde Zeitfenster genutzt, das sich auftat, sobald sich jemand versetzte. Ein winziger Moment, in dem selbst eine verborgene Signatur geöffnet war, sodass man sich – sofern man schnell genug war – dranhängen und demjenigen folgen konnte. Shandraziel war schnell genuggewesen. Doch er war Kyriel nicht gefolgt, sondern hatte nur darauf geachtet, wohin er sich versetzte. Dass es lediglich die andere Seite des Gebäudes gewesen war, hatte ihn verwundert.
Ein kurzer Augenblick der Konzentration hatte Shandraziel auf das Dach von Joeys Grill versetzt. Von dort aus hatte er beobachtet, wie Kyriel im
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