Seelenglanz
Glück, Jules.«
»Danke.« Sie nickte ihm noch einmal kurz zu, verließ das Büro und ging in den kleinen Aufenthaltsraum für Angestellte, wo sie das T-Shirt gegen ihren Pullover tauschte, die Kapuzenjacke anzog und sich ihre Tasche schnappte.
Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, die Adressen abzuklappern, die Joe ihr aufgeschrieben hatte. Es waren allesamt Restaurants, Cafés oder Bars. Und allesamt brauchten sie niemanden. Nachdem sie mit der Liste durch war, begann sie in jedem Lokal und jedem Geschäft nachzufragen, an dem sie vorüberkam. Kellnern, verkaufen, putzen, sie hätte jeden Job angenommen, ohne lange zu überlegen. Nur, dass es keine Jobs gab.
Mit jedem weiteren Nein sank ihr Mut ein Stück mehr. Sie zog von Straße zu Straße und hielt nach Schildern in den Fenstern Ausschau, die verkündeten, dass jemand gesuchtwurde. Vor der Wirtschaftskrise hatte beinahe an jedem Laden eines gehangen, jetzt jedoch waren die Fenster leer. Die meisten bauten eher Personal ab, als dass sie noch jemanden suchten, und die, die noch Stellen zu vergeben hatten, brauchten die Leute erst in ein paar Wochen. Dann war es ohnehin zu spät.
Nach vier Stunden hatte Jules das Gefühl, dass es kaum noch einen Ort gab, an dem sie nicht nachgefragt hatte. Sie hatte jedes Restaurant, jede Kneipe und jeden Fast-Food-Tempel in der Pike Street und Umgebung abgeklappert. Mit einer Ausnahme – einem Laden, von dem sie gehofft hatte, ihn niemals wieder sehen zu müssen: Hudsons Bar.
Jules hatte dort gearbeitet, bevor sie zu Joe gekommen war. Dass sie das Hudsons verlassen hatte, war seinem Besitzer, Hudson James, geschuldet, der es nicht lassen konnte, sie bei jeder Gelegenheit anzugraben. Damals hatte sie angefangen, Cargohosen und weite Shirts oder Pullover zu tragen, statt der Kleider und Röcke, die sie zuvor angezogen hatte, eine Angewohnheit, die sie bis heute beibehalten hatte. Sie hätte sich jedoch ebenso gut in Säcke hüllen können, das hätte Hudson nicht davon abgehalten, sich an sie heranzumachen. Zum Schluss waren seine Annäherungen so schlimm gewesen, dass Jules es mit der Angst zu tun bekommen und gekündigt hatte. Eine Weile hatte er sie noch mit Anrufen verfolgt und erst aufgegeben, nachdem sie keinen seiner Anrufe angenommen und ihn auch nie zurückgerufen hatte. Glücklicherweise kannte er ihre Adresse nicht.
»Du kannst jederzeit zu mir zurückkommen«, hatte er ihr zum Abschied gesagt.
Jederzeit.
Auf keinen Fall! So verzweifelt war sie nicht! So verzweifelt wollte sie nicht sein!
Aber vielleicht war die Lage schlimmer, als sie gedachthatte – zumindest ihr Unterbewusstsein schien dieser Meinung zu sein, als es sie durch die Straßen lenkte. In ihre Erinnerungen vertieft hatte Jules einen Weg eingeschlagen, dessen Ziel ihr erst bewusst wurde, als vor ihr die blaue Leuchtreklame des Hudsons in der Nacht auftauchte.
Sie folgte der Harvard Avenue, angetrieben von dem Drang, es hinter sich zu bringen. Etwas in ihr sträubte sich jedoch so sehr dagegen, ihren Stolz aufzugeben und um ihren alten Job zu betteln, dass sie, statt auf den Eingang zuzugehen, in die dunkle Gasse neben der Bar einbog, die zu einem Parkplatz auf der Rückseite des Gebäudes führte. Müllcontainer, Getränkekästen und leere Paletten flankierten die Außenwand des Hudsons , als stünden sie dort Spalier. Abfälle, die von Katzen und Hunden oder von Obdachlosen, die die Mülltonnen nach etwas Essbarem durchsuchten, herausgeworfen worden waren, lagen über das unebene Kopfsteinpflaster verteilt.
Auf halbem Weg durch die Gasse hielt Jules inne. Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie glaubte die Blicke zu spüren, die wie kleine Spinnenbeine über ihren Nacken krochen. Als sie sich jedoch umsah, war da niemand. Die Gasse war ebenso leer wie ihre Geldbörse.
Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben stand sie an der gegenüberliegenden Hauswand und starrte auf die schmale Tür, durch die sie Hunderte Male selbst gegangen war. Es war der Eingang für das Personal und der Weg zu den Müllcontainern. Vor allem aber war es der Ort, an dem Hudson gerne im Dunkeln auf sie gewartet hatte, um sie zu erschrecken und dann sofort die Gelegenheit für eine Entschuldigung zu nutzen. Eine Entschuldigung, die immer mit dem Einsatz seiner Hände verbunden war. Er hatte sie nie wirklich unsittlich berührt, doch er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie in irgendeiner Form anzufassen.
Nein, sie würde nicht hierher
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