Seelenglanz
Restaurant verschwand. Nachdem der Verräter nach einer Weile noch immer nicht auf den Bürgersteig zurückgekehrt war, hatte Shandraziel sich nach unten versetzt und einen Blick durch das Fenster geworfen. Es hatte eine Weile gedauert, ehe er Kyriel entdeckte, dann jedoch war die Überraschung umso größer gewesen: Der Verräter hatte einen Nephilim entdeckt.
Die Sache wurde immer interessanter.
Da Shandraziel das Potenzial seiner Entdeckung erkannte, verschob er seinen eigentlichen Auftrag auf später – um den Ganoven konnte er sich morgen immer noch kümmern. Jetzt würde er sich erst einmal die Signatur des Nephilim holen.
Sobald Kyriel fort war, hatte er das Restaurant in seiner menschlichen Form betreten, sich einen Tisch gesucht und sich etwas zu essen bestellt.
Die Seele eines Nephilim war um so vieles wertvoller als die eines gewöhnlichen Menschen. Shandraziel würde sie dem Morgenstern zu Füßen legen. Die Seele, zusammen mit den Neuigkeiten über Kyriels Verrat, würde ihn in der Gunst des Morgensterns nach oben katapultieren: geradewegs an die Stelle, die Kyriel bisher eingenommen hatte.
Shandraziel hatte seinen Kaffee zur Hälfte ausgetrunken, da verließ der Nephilim die Küche und ging zu den Waschräumen. Einige Minuten vergingen, bis die Tür wieder geöffnet wurde. Sofort war Shandraziel auf den Beinen. Er hatte den Gang zur Hälfte durchquert, als ihm derNephilim entgegenkam. Der Gang war schmal, der Junge versuchte ihm auszuweichen, konnte aber nicht verhindern, dass Shandraziels Arm im Vorübergehen seine Schulter streifte. Im Augenblick der Berührung offenbarte sich dem Seelenfänger die Signatur des Jungen. Der Nephilim bemerkte davon nichts. Er murmelte eine Entschuldigung und verschwand in der Küche.
Keine Ursache . Ein zufriedenes Grinsen huschte über Shandraziels Züge. Als hätte er es sich anders überlegt, kehrte er an seinen Platz zurück, bezahlte seine Rechnung mit einer Handvoll zerknüllter Dollarscheine aus seiner Hosentasche und verließ Joeys Grill in der Gewissheit, den Jungen nun jederzeit aufspüren zu können. Jetzt musste Shandraziel sich ihm nur noch an die Fersen heften und herausfinden, welche – vermeintlich wertvolle – Gegenleistung ihn diese Seele kosten würde. Jeder Mensch hatte seinen Preis.
6
Jules warf den Scheuerlappen zur Seite, mit dem sie den Grill auf Hochglanz gebracht hatte, und schleppte den Wassereimer zur Spüle. Mit beiden Händen hievte sie den schweren Eimer hoch und leerte seinen Inhalt ins Becken. Ihr Blick ruhte auf der fettig braunen Brühe, die sich in die Spüle ergoss, in einem Strudel im Ausguss versickerte und dabei Fleischklumpen und Schmutz mit sich riss. Von einem Strudel mitgerissen. Das war in etwa das Gefühl, das auch auf Jules zutraf.
Oder vom Lkw des Lebens überrollt.
Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass Joe ihr keine Zusatzschichten gegeben hatte. Stattdessen würde er ihr sogarSchichten streichen! Diese Neuigkeit war wie ein Faustschlag gewesen. Und die Wucht des Schlages hatte den ganzen Tag über angehalten. Wie betäubt war sie ihrer Arbeit nachgegangen, hatte alle anfallenden Arbeiten wie in Trance erledigt, während sich ihre Gedanken um immer dieselbe Frage gedreht hatten: Wie sollte sie das fällige Schulgeld bezahlen?
Das letzte Jahr hatte sie nur durchgehalten, weil ihr die Schule eine Perspektive gegeben hatte – die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Wenn sie von der Schule flog, hatte sie nichts mehr außer der Gewissheit, dass ihr Leben auf ewig so beschissen bleiben würde, wie es im Augenblick war.
Sie drehte den Wasserhahn auf, spülte die Reste des schmutzigen Putzwassers aus dem Becken und wusch den Lappen aus. Aus Gewohnheit warf sie einen Blick zur Uhr. Sie war schon ziemlich spät dran für die Schule. Dann jedoch wurde ihr klar, dass das keine Rolle spielte. Wenn sie heute den Unterricht nicht sausen ließ, um sich einen weiteren Job zu suchen, brauchte sie sich dort ohnehin nicht mehr blicken lassen.
Nur wo sollte sie eine Arbeit herbekommen, bei der sie gleich um einen Vorschuss bitten konnte?
Vielleicht würde es helfen, noch einmal mit Joe zu sprechen. Wenn sie ihm erklärte, wofür sie das Geld benötigte, konnte sie ihn vielleicht doch noch erweichen, ihr etwas vorzustrecken.
»Kommst du klar, Matt?«, fragte sie ihren Kollegen, der vor ein paar Minuten seine Schicht angetreten und den Grill übernommen hatte.
Er winkte ihr mit der Fleischzange zu, ohne sich
Weitere Kostenlose Bücher