Seelenglanz
schnellen Schritten rannte sie auf die Harvard Street hinaus, seine Beschimpfungen ignorierend, die ihr wie ein Schreckgespenst durch die Nacht folgten.
Sie hetzte durch die Straßen, getrieben von einem einzigen Ziel: fort von hier!
Kneipen, Restaurants und erleuchtete Schaufenster flogen an ihr vorüber. Alles um sie herum blieb merkwürdig verschwommen, als würde die Welt rasend schnell an ihr vorbeiziehen. Eine flimmernde Leuchtreklame blendete sie und zwang sie, die Augen zusammenzukneifen. Als sie über die Straße lief, ohne nach links und rechts zu schauen, kam ein Taxi mit quietschenden Bremsen vor ihr zum Stehen. Der Fahrer drückte auf die Hupe, doch Jules lief einfach weiter. Sie rannte und rannte, bis ihre Lungen brannten und ihre Beine verkrampften. Trotzdem lief sie weiter, wenn auch ein wenig langsamer, bis der Drang von ihr abfiel, immer noch mehr Abstand zwischen sich und Hudson zu bringen.
Als sie schließlich stehen blieb, war sie vollkommen außer Atem, aber immerhin hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie nicht länger davonlaufen wollte. Sie war auf der Madison Street östlich des Stadtzentrums gelandet, unmittelbar vor einem McDonald’s, dessen Leuchtreklame sie in warmem Licht badete. Jules ging hinein, bestellte einen Kaffee zumMitnehmen und bezahlte mit ein paar Münzen, die sie aus ihrer Hosentasche kramte.
Mit dem heißen Kaffeebecher in der Hand kehrte sie nach draußen zurück und folgte der Straße bis zur Tenth Avenue. Von dort aus war es nur ein kurzer Weg in den Cal Anderson Park.
Offiziell war der Park seit einer halben Stunde geschlossen, da es jedoch keine Mauer und keinen Zaun gab, der sie daran hätte hindern können, ihn zu betreten, folgte sie einem der Kieswege tiefer in die Anlage hinein. Die Flutlichter über dem Baseballfeld und dem Fußballplatz waren erloschen, die Bänke, die tagsüber von Ruhe suchenden Menschen belagert waren, lagen ebenso verlassen da wie die Wege, die sonst von Radfahrern, Läufern und Fußgängern bevölkert waren.
Jules mochte den Park. Manchmal kam sie vor der Arbeit hierher oder auch kurz danach, wenn ihr noch Zeit blieb, ehe sie zum Unterricht musste. Dann setzte sie sich ins Gras und beobachtete die Menschen, die an ihr vorüberkamen, und stellte sich vor, eines Tages zu ihnen zu gehören – jemand mit einem vernünftigen Beruf und genügend Geld, um über die Runden zu kommen.
Sie hielt auf eine Bank zu, die im Schein einer Laterne auf einer Insel aus Licht zu stehen schien, und setzte sich. Nach einem langen Tag, angefüllt mit Hektik und Stimmen, die ohne Unterlass die Luft erfüllten, genoss Jules die Stille, die sich zusammen mit der Dunkelheit über den Grünflächen ausbreitete. Die frische Luft und die Einsamkeit vermittelten ihr das Gefühl von Frieden und Ruhe, das sie den ganzen Tag über vermisst hatte. Heute jedoch wollte sich die gewohnte Ausgeglichenheit nicht einstellen. Nicht einmal das würzige Aroma des Kaffees, das aus dem Becher in ihre Nase stieg, konnte daran etwas ändern.
Der Wind strich in einer kühlen Brise über sie hinweg und ließ sie frösteln. Dass ihre Hände zitterten, hatte jedoch nichts mit dem Wind oder der kühlen Nacht zu tun. Es war die Reaktion ihres Körpers auf das, was sie um ein Haar getan hätte. Beinahe hätte sie sich selbst verkauft. Nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Selbstachtung und ihren Stolz. Selbst der süße Kaffee vermochte es nicht, den Ekel vor sich selbst zu vertreiben, den die Erinnerung an Hudson in ihr aufkommen ließ.
Sie hatte sich ihre Integrität erhalten. Der Preis dafür war ihre Zukunft gewesen.
Meine Zukunft ist nicht verloren! , sagte sie sich. Ich werde meinen Abschluss machen! Vielleicht würde es länger dauern als geplant. Womöglich musste sie erst ein oder zwei Jahre arbeiten und versuchen, in dieser Zeit genug Geld zur Seite zu legen, um die Schule bezahlen zu können. Aber dann würde sie noch einmal einen Anlauf nehmen.
Wem wollte sie etwas vormachen? Sie stellte den Kaffee neben sich auf die Bank, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Gesicht in die Hände. Wenn sie die Schule jetzt verließ, würden der Alltag und der tägliche Kampf, sich und ihre Mom über die Runden zu bringen, sie mit sich reißen. Irgendwann würde sie aufwachen, als fünfzigjährige alleinstehende Frau, an der das Leben einfach so vorbeigerauscht war, ohne dass sie je die Gelegenheit gefunden hatte, sich ihre Träume zu erfüllen.
Schritte knirschten
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