Seelenglanz
zurückgehen. Allein der Gedanke ließ schon einen Kloß in ihrem Hals anwachsen, der ihr den Atem nahm. Die Frage war nur: Welche Alternative blieb ihr noch?
Während Jules gegen das Gefühl der Ausweglosigkeit ankämpfte, das wie eine Sturzflut über sie hereinbrach, ging die Seitentür auf. Sofort machte sie einen Schritt nach hinten und tauchte in den Schatten eines Kistenstapels, gerade noch rechtzeitig, um Hudsons Blick zu entgehen, der in diesem Moment mit einem Müllsack in der Hand nach draußen trat. Jules biss die Zähne aufeinander und beobachtete, wie er den Sack mit Schwung nach oben wuchtete und in einen der offen stehenden Container schleuderte. Statt sofort wieder nach drinnen zurückzukehren, zog er ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche, holte eine heraus und zündete sie an. Genüsslich inhalierte er den Rauch, während sein Blick die Gasse auf und ab wanderte.
Wie ein Raubtier auf der Suche nach der nächsten Beute, schoss es Jules durch den Kopf. Um nicht selbst zur Beute zu werden, zog sie sich weiter in die Schatten zurück. Dabei blieb sie mit der Schulter an einem Karton hängen. Er fiel nicht herunter und sein Inhalt klirrte auch nicht. Trotzdem reichte das leise Schaben aus, um Hudsons Aufmerksamkeit zu erregen.
Die glimmende Zigarette im Mundwinkel sah er in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Die lässige Haltung, die er eben noch eingenommen hatte, löste sich in Nichts auf. Unter dem T-Shirt spannten sich seine Muskeln deutlich sichtbar an, als er sich zu voller Größe aufrichtete.
»Wer ist da?«, rief er in die Dunkelheit.
Jules hielt die Luft an und presste sich mit dem Rücken an die Hauswand. Obwohl einem Teil von ihr längst klarwar, dass sie einer Begegnung nicht mehr ausweichen konnte, versuchte sie noch immer, sich davor zu drücken.
»Ich weiß, dass da jemand in den Schatten herumlungert.« Hudson schnappte sich die Eisenstange, die stets für Notfälle neben dem Gerümpel an der Tür lehnte, und näherte sich ihrem Versteck. »Du haust besser ab, bevor ich dir …« Er ließ die Stange sinken. »Jules!«
Sie löste sich von der Wand, mit der sie am liebsten verschmolzen wäre, und trat einen Schritt vor. »Hallo, Hudson.« Die Zunge klebte ihr am Gaumen und machte es ihr schwer, die beiden Worte auszusprechen.
»Was treibst du da?«
»Mir ist mein Ohrring runtergefallen und zwischen die Kisten gerollt.«
Er kam noch näher und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Du trägst überhaupt keine Ohrringe.«
»Jetzt nicht mehr, denn die liegen irgendwo im Dreck.«
»Ich hole eine Taschenlampe und helfe dir suchen.«
»Nicht nötig.« Die bloße Vorstellung, länger als notwendig allein mit ihm im Dunkeln zu sein, verursachte ihr schon Übelkeit. »Ich habe schon alles abgegrast. So wie es aussieht, ist er durch das Gitter in den Abwasserkanal gefallen.«
Hudson kam noch einen Schritt auf sie zu, mittlerweile war er so nah, dass ihr das Aroma seines viel zu schweren Aftershaves in die Nase stieg. Ein Geruch, von dem sie gehofft hatte, ihn nie wieder riechen zu müssen. Wenn er jetzt die Hand ausstreckte, könnte er sie berühren. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück.
Hudson James war ein durchschnittlich aussehender Mittdreißiger mit kurzem blondem Haar und freundlichen braunen Augen. Jemand, bei dem man sofort das Gefühl hatte, er könnte ein guter und zuverlässiger Freund sein.Ein platonischer Freund. Unglücklicherweise war genau das seine Masche. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, zuzuhören und tatsächlich an dem interessiert zu sein, was sie zu sagen hatte. Nach einer Weile jedoch hatte er versucht, die Freundschaft auf die – wie er es nannte – nächste Stufe zu bringen. Anfangs war ihr sein Verhalten vollkommen normal erschienen. Als sie seinem Kuss jedoch ausgewichen war und versucht hatte ihm klarzumachen, dass ihre Gefühle für ihn rein freundschaftlicher Natur waren, konnte er das nicht akzeptieren.
Ihm nach all den Monaten wieder gegenüberzustehen, weckte das Verlangen in ihr, davonzulaufen. Unglücklicherweise musste sie dazu an ihm vorbei, und sie war sich nicht sicher, ob er sie so einfach gehen lassen würde.
»Du hast nicht einmal Ohrlöcher«, sagte er, »also erzähl mir keinen Blödsinn von irgendwelchen verlorenen Ohrringen. Warum bist du wirklich hier?«
Es kostete sie Überwindung, überhaupt den Mund aufzubekommen. Die Handflächen an die Seiten ihrer Schenkel gedrückt, um die Hände nicht
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