Seelenglanz
auf dem Kies und schreckten Jules auf. Ihr Blick schoss nach links, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ein Mann schlenderte den Weg entlang auf sie zu, als wäre es das Normalste auf der Welt, mitten in der Nacht durch einen Park zu spazieren. Alarmiert sprang Jules auf. Der Kaffeebecher, der neben ihr auf der Bank gestanden hatte, kippte um. Der Deckel löste sichund gab den Inhalt frei, der sich in einem braunen Sturzbach über die Bank ergoss.
Der Fremde war stehen geblieben, keine fünf Meter von ihr entfernt, und hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte dir keine Angst einjagen.«
Etwas an ihm kam ihr bekannt vor, doch bei der Arbeit sah sie den ganzen Tag über unzählige Gesichter, manchmal so viele, dass sie ineinander verschwammen, bis sie sie nicht mehr auseinanderhalten konnte. Einen Kerl wie den hier jedoch konnte man nicht so leicht verwechseln. Er sah aus wie ein Biker – oder ein männliches Model. Die perfekte Mischung aus bösem Jungen und kantigem Schönling, die Frauenherzen unweigerlich schneller schlagen ließ. Auch Jules’ Herz war aus dem Takt geraten, was allerdings weniger an seinem langen schwarzen Haar, der Lederhose und dem eng anliegenden Shirt lag, das sich über seinen muskulösen Oberkörper spannte, als vielmehr daran, dass sein Auftauchen sie erschreckt hatte.
»Alles in Ordnung?« Langsam kam er näher, und in dem Augenblick, in dem er vollends in den Lichtkreis der Laterne trat, erinnerte sie sich auch wieder, wo sie ihm begegnet war. Als sie heute Nachmittag aus dem Waschraum gekommen war, wäre sie um ein Haar mit ihm zusammengestoßen. Ganz hatte sie ihm nicht mehr ausweichen können, aber immerhin noch so weit, dass sie einander im Vorübergehen nur gestreift hatten.
Sie richtete sich kerzengerade auf, um ihn ihre Angst nicht merken zu lassen. »Verfolgen Sie mich?«
Er blieb erneut stehen. Zu nah für Jules’ Geschmack, aber nicht nah genug, um sie berühren zu können – nicht einmal, wenn er den Arm ganz ausstreckte und sich nach vorne beugte. »Verfolgen ist zu viel gesagt.« Seine Stimme klang angenehm, warm und freundlich, seine Worte jedoch ließensie aufhorchen. »Ich habe mitbekommen, dass du ein Problem hast.«
»Im Augenblick scheinen Sie mein Problem zu sein.« Aus dem Augenwinkel sah sie sich nach Hilfe um. Ein Spaziergänger oder ein Jogger, vielleicht auch jemand, der noch einmal mit seinem Hund eine Runde drehte, ehe er zu Bett ging. Doch die Wiesen und Wege waren dunkel und leer.
»Du irrst dich«, sagte der Fremde in einem Tonfall, der klang, als wüsste er alles über sie. »Ich bin nicht das Problem – ich bin die Lösung.«
Wenn das eine Anmache sein sollte, war es so ziemlich die billigste, die sie je gehört hatte. Wäre ihr die Situation nicht so bedrohlich erschienen, hätte sie vermutlich gelacht. So verlagerte sie ihr Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen, während sie abzuwägen versuchte, ob sie ihm entkommen konnte, wenn sie jetzt einfach losrannte. Er sah durchtrainiert aus und war sicher um einiges schneller als sie. Solange es ihr nicht gelang, mehr Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, war sie sicher chancenlos.
Er bemerkte ihren Blick und machte einen Schritt zurück. »Ich will dir wirklich nichts tun, und ich bin dir ganz sicher nicht gefolgt, um dich zu vergewaltigen.«
Vermutlich hatte er es gar nicht nötig, sich jemandem aufzudrängen. Bei seinem Aussehen folgten ihm vermutlich mehr sabbernde Frauen, als er verkraften konnte. Jules fürchtete sich auch weniger davor, dass er über sie herfallen könnte, als vor dem, was er wirklich von ihr wollte. Immerhin hatte er gerade selbst zugegeben, dass er ihr gefolgt war.
»Du meine Güte! Bis dich dieser Typ angegraben hat, wusste ich nicht einmal, dass du ein Mädchen bist.«
Unter anderen Umständen hätte es sie vielleicht verletzt, dass er sie für einen Jungen gehalten hatte. In diesem Moment jedoch war sie vollkommen auf den anderen Teilseiner Aussage konzentriert. Bis dich dieser Typ angegraben hat … Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Sie war tatsächlich nicht allein in der Gasse gewesen. Mein Gott, dieser Kerl war Zeuge von Hudsons Angebot geworden. Er hatte gesehen, was sie beinahe getan hätte. Beschämt senkte sie den Blick.
»Es war gut, dass du ihn in die Wüste geschickt hast. Er ist ein widerlicher Schleimsack.«
Natürlich war er das! Ihn abzuweisen hatte zwar ihr Leben ruiniert, aber, hey, wen interessierte das
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