Seelenglanz
allerdings Kyle nennen. Kyle O’Neil.«
»Ist Gott etwa Ire?«
Kyriel, Kyle – wie auch immer er heißen mochte – lachte. »Der Hirte hat eine Menge Staatsangehörigkeiten, würde ich mal sagen.«
»Der Hirte? So nennt ihr ihn?«
»Ich kenne sogar jemanden, der ihn den Chef nennt.«
Jules wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sich darüber wundern oder ob sie eher darüber lachen sollte. »Okay«, sagte sie stattdessen. »Bevor ich gar nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, solltest du mir vielleicht ein paar Sachen erklären. Warum verfolgst du mich?« Solange er erzählte, konnte sie versuchen ihre Gedanken zu ordnen.
Kyriel trank einen Schluck von seinem Kaffee. Endlose Sekunden verstrichen, bis er den Becher auf den Tisch zurückstellte und Jules in die Augen sah. »Erinnerst du dich daran, als du mich zum ersten Mal gesehen hast?«
Sie nickte. »Gestern Mittag in Joes Küche.«
»Das war nicht das erste Mal«, widersprach er. »Dass ich dort aufgetaucht bin, lag daran, dass du mich zuvor bereits gesehen hattest. Draußen im Hinterhof.«
Jules unterdrückte einen Fluch. Nur zu gut hatte sie Joes erschrockene Miene noch vor Augen, als er in die Küche gestürmt war und die Tür hinter sich verriegelt hatte. Ich glaube, ich bin gerade einem Überfall entgangen. »Das warst du? Aber du wolltest Joe nicht überfallen, oder?«
»Himmelarsch, ich bin ein Engel!«, entfuhr es ihm ein wenig zu laut. Leiser sagte er: »Ein Auftrag hat uns in diese Gasse geführt.«
»Uns?«
»Einen anderen Engel und mich.«
»Du bist nicht der einzige?«
»Ich bin vielleicht einzigartig, aber leider nicht der einzige«, gab er unwirsch zurück. »Kannst du nicht einfach die Klappe halten, deinen Muffin essen und zuhören?«
Geduld gehörte sichtlich nicht zu den himmlischen Tugenden. Zumindest schien sie keine Grundvoraussetzung für einen Engel zu sein. Falls doch, steckte dieser hier sicher des Öfteren in Schwierigkeiten.
»Also gut«, nickte sie. »Schieß los.«
Wieder verstrichen scheinbar endlose Sekunden, während derer er sie musterte, als wollte er sichergehen, dass sie dieses Mal zuhören würde, statt ihn mit weiteren Fragen zu bombardieren. Jules war sich nicht sicher, ob sie das wirklich durchhalten würde, um aber zumindest ihren guten Willen unter Beweis zu stellen, nahm sie den Muffin vom Teller und biss hinein.
»Wie bereits erwähnt, waren wir wegen eines Auftrags unterwegs.« Er brummte etwas von einem Job als Schutzengel und davon, dass es die Aufgabe seines Begleiters gewesen sei, eine tödliche Begegnung zwischen Joe und dem Räuber zu verhindern. Welche Aufgabe er dabei zu erfüllen hatte, sagte er nicht.
»Bist du …«
Kyriels finsterer Blick brachte sie schlagartig zum Schweigen. Sie hatte ihn fragen wollen, ob er ihr persönlicher Schutzengel sei – je länger diese Begegnung andauerte, desto inständiger hoffte sie allerdings, dass dem nicht so war. Statt mit ihrer Frage fortzufahren, spülte sie sie mit einem Schluck Kaffee hinunter.
»Wie dem auch sei«, fuhr er fort. »Der Auftrag ist in diesem Fall zweitrangig. Hier geht es um dich. Als du mit Fertucci im Hof warst, da hast du etwas in den Schatten gesehen, nicht wahr?«
Es dauerte einen Moment, ehe Jules begriff, dass es keine rhetorische Frage war und er tatsächlich eine Antwort erwartete. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«
»Das hast du«, bestätigte Kyriel. »Nämlich mich.«
»Und deshalb bist du mir gefolgt? Warum?«
»Weil du gar nicht in der Lage sein solltest, mich zu sehen. Nicht, wenn ich es nicht will, und ich wollte es ganz sicher nicht.«
»Dann hättest du dich ein Stück weiter in die Schatten verziehen sollen, wie es dein … äh … Kollege offensichtlich getan hat.«
»Das hätte ich. Trotzdem hättest du mich nicht sehen dürfen.«
»Du erzählst mir jetzt vermutlich nicht, dass jeder Mensch, der einen Engel zu Gesicht bekommt, drei Wünsche frei hat, oder?«
»Ich erzähle dir, dass jeder Mensch, der einen Engel zu Gesicht bekommt, kein Mensch ist. Und bevor du wieder mit der Fragerei anfängst, sei einfach still und hör mir zu. Ich will das endlich hinter mich bringen.«
Dieses Mal hatte sie kein Problem damit, den Mund zu halten. Was hätte sie auf so etwas auch erwidern sollen? Sie wusste nicht einmal, ob sie den Sinn seiner Worte richtig verstanden hatte.
»Dass es hin und wieder Menschen gibt, die uns trotz allem sehen können«,
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