Seelenglanz
erklärte er, »liegt daran, dass in den Adern dieser Menschen auch das Blut eines Engels fließt.«
Drei Sekunden lang starrte Jules ihn einfach nur entgeistert an. Dann begann sie zu lachen. Sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen und sie kaum noch Luft bekam, und selbst dann konnte sie noch immer nicht aufhören. Kyriel verzog das Gesicht und nippte genervt an seinem Kaffee. Als sie sich endlich etwas beruhigte, hatte sieSeitenstechen und war kurz davor, Schluckauf zu bekommen. Hastig trank sie einen großen Schluck von ihrem Kaffee und atmete tief durch. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, mir zu sagen, dass das alles nur ein Scherz ist, zu dem dich irgendjemand angestiftet hat, dem ich im Laufe meines Lebens mal auf die Zehen getreten bin.«
Kyriel sagte nichts.
Sie war drauf und dran, Namen von Leuten aufzuzählen, denen sie derartige Späße zutrauen würde, als es ihr heiß und kalt über den Rücken lief. Da war etwas in seinem Blick, eine Mischung aus Ruhe und Wissen, bei der ihr ganz anders wurde. Mein Gott, das war kein Scherz! Er hatte jedes Wort so gemeint, wie er es gesagt hatte.
Natürlich hatte er das!
Menschen, die anderen einen Streich spielten, sprangen nicht von Dächern und tauchten kurz darauf mit einem Paar Flügel wieder auf. Sie teleportierten sich auch nicht durch die Gegend, und die Sache mit dem Schwert, das aus dem Nichts in seiner Hand entstanden war, als er Shawn Raziel vertrieben hatte, ließ sich auch nur schwer auf gute Trickeffekte schieben. Jeder Anflug von Humor war ihr vergangen, als sie ihn jetzt wieder ansah. So musste sich ein Reh im Scheinwerferlicht fühlen – eine Sekunde bevor es überfahren wurde.
»Könntest du irgendetwas sagen, was mich davon abhält, den Verstand zu verlieren?«
»Du bist nicht geisteskrank«, versicherte er ihr.
»Aber ich bin auch kein Mensch?« Sie fürchtete sich vor seiner Antwort und davor, was sie für ihr Leben bedeuten mochte, ein Leben, von dem sie immer gedacht hatte, dass es zwar beschissen, aber immerhin in halbwegs geregelten Bahnen verlaufen war. Unter Bedingungen, mit denen sie sich auskannte und mit denen sie umgehen konnte. Wennsie jetzt alles, was sie über sich und ihr Dasein wusste, infrage stellen musste – was blieb dann noch?
»Du bist immer noch ein Mensch. Aber du bist auch noch so viel mehr.«
»So fühlt es sich im Augenblick aber nicht an.« Für ihn mochte das Wissen um Engel, Halbengel und Teufel zum normalen Tagesgeschäft gehören, Jules jedoch musste das alles erst einmal verdauen. Sie musste nachdenken. Dafür brauchte sie Zeit. Vorhin hatte sie so viele Fragen gehabt, dass sie sich fast nicht hatte bremsen können. Jetzt jedoch schien ihr Verstand so sehr darauf fixiert zu sein, das Gehörte einzuordnen, dass sie kaum noch eine vernünftige Frage formulieren konnte.
»Mein Vater«, setzte sie an. »War er …?«
»Er war ein Engel.«
Jules schnaubte. Die Verachtung für ihren Vater, die sie all die Jahre aufrechterhalten hatte, rief die gewohnte Wut auf ihn hervor. Eine Wut, die es ihr zumindest ermöglichte, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. » Engel ist wohl nicht ganz die passende Bezeichnung.«
»Was weißt du über ihn?«
»Nur, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, als er erfuhr, dass Mom schwanger ist.«
»Sie hat nie mehr erzählt?«
Jules schüttelte den Kopf. »Sie weigert sich, über ihn zu sprechen, die meiste Zeit ist sie sowieso nicht mehr in der Lage …« Schlagartig brach sie ab, als ihr bewusst wurde, dass sie zu viel gesagt hatte.
»Ich habe sie gesehen«, sagte Kyriel. »Ist sie seinetwegen so?«
»Ich nehme es an.« Wie üblich fiel es ihr schwer, über den Zustand ihrer Mutter oder über ihr eigenes Leben zu sprechen. Sie wollte kein Mitleid, und sie wollte sich nicht selbstdaran erinnern, wie schwierig alles war, indem sie anderen erzählte, was für ein Leben sie führte.
Der Engel jedoch war noch nicht bereit, das Thema fallen zu lassen. »Du kümmerst dich um sie«, stellte er fest. »Ist es nicht so?«
Jules zuckte die Schultern. Einer muss es ja tun.
»Du wüsstest es gerne, oder?« Zum ersten Mal war seine Stimme frei von Arroganz, Selbstgefälligkeit oder Ungeduld. Aus seinem Mund klangen die Worte beinahe mitfühlend.
»Was?«
»Wer dein Vater war und warum er gegangen ist.«
Sie lächelte schwach. »Immerhin weiß ich jetzt, dass er wohl Flügel hatte.«
13
Ich hatte dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter mich
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