SEELENGOLD - Die Chroniken der Akkadier (Gesamtausgabe)
Frühstück!“ Sie riss sämtliche Schränke auf und meckerte leise vor sich her, weil kaum etwas Brauchbares vorhanden war. Mit einem Schmunzeln im Gesicht beobachtete Selene ihre Freundin.
Julia strahlte echtes Leben aus, ganz anders als Selene. Ihr Haar besaß ein auffallend kräftiges Blond und verlief flammend über den Rücken. Manchmal schien es, als ob sich die Locken aus dem Zopf befreien wollten, um sich endlich ungehindert bewegen zu können. Der Tag, an dem Selene dieses Blond zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr bis heute im Gedächtnis geblieben – der Tag, an dem sie ihre Julia kennengelernt hatte.
Se lene hetzte die Brushfield Street entlang und wich den Pfützen aus. Die London Post über ihrem Kopf war durchnässt, genauso wie ihre Jacke. Das Wasser triefte an Selenes Gesicht hinunter und schlich sich unter die Kleidung. Langsam wurde es unangenehm. Als sie am Market Coffee House vorbei kam, wog Selene kurz die Möglichkeiten ab. Bis zur Haltestelle Liverpool Street wären es noch gute zehn Minuten, vorausgesetzt sie könnte ihr Tempo halten. Was soll’s? Sie hatte einen freien Nachmittag und nichts weiter geplant. Dann durfte sie sich auch kurz aufwärmen und einen Kaffee genießen.
Im Coffee House wurde Selene von einem traditionellen Türklingeln begrüßt. Das Geschäft war voll, so gut wie jeder Platz besetzt. Gäste drehten sich zu ihr um und musterten ihre durchnässte Erscheinung.
Selene mochte diese Augenblicke nicht, fühlte sich fehl am Platz – wie so oft. Sie ignorierte ihren Unmut, ging zur Theke und bestellte den Kaffee – schwarz, ohne alles. Als sie sich umdrehte, stieß sie beinahe mit einer blonden Frau zusammen und konnte nur mit Mühe ein Überschwappen des heißen Getränkes verhindern. Nachdem sich der Kaffee beruhigt hatte, schaute Selene auf. Die Blondine strahlte sie an – als ob sie sich kennen müssten.
„’Tschuldigung“, murmelte Selene irritiertund wollte sich geradevorbeischieben.
„Einen Kaffee sollte man nicht im Stehen trinken“, lächelte die Fremde und rief Selenes Aufmerksamkeit zurück.
„Hmm?“
„Setz dich doch einfach zu mir.“ Die junge Frau stützte sich auf die Lehne eines Stuhls, an dem eine goldene Handtasche hing, legte den Kopf schief und strahlte über beide Wangen. „Hier ist noch Platz!“ Sie nickte zutraulich und deutete auf den Platz ihr gegenüber.
„Ähm …“ Etwas überfordert mit dieser Freundlichkeit warf Selene einen sehnsüchtigen Blick in den überfüllten Raum und stellte fest, dass es weder einen freien Tisch noch ersichtlich bessere Gesellschaft als eine offenherzige Frau ihres Alters gab.
„Okay. Dankeschön.“
Sie setzten sich und die Fremde streckte Selene ihre grazile Hand entgegen. „Hi, ich bin Julia. Und du?“
Zaghaft reichte sie die Hand hinüber. „Ich heiße Selene. Ähm, freut mich.“
Was an diesem Tag geschehen war, hatte Selene bis heute nicht begriffen. Aus Fremden waren Vertraute geworden. Sie hatten erzählt und gelacht, als wären sie alte Freunde, hatten Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdeckt, die doch so gut harmonierten, dass es nur verständlich war, sich anzufreunden.
Und in den letzten zwei Jahren hatte Julia immer wieder aufs Neue bewiesen, dass ihre Freundschaft ein wahres Geschenk war. Ob sie zu Silvester mit drei Flaschen Sekt vor der Tür stand und ihre Party sausen ließ, damit Selene nicht allein war, sie mitten in der Nacht aufsuchte und ihr Gesellschaft leistete, als ob Julia gewusst hätte, dass Selene nicht schlafen konnte oder an einem Sonntagmorgen, an dem Selenes Welt wie ein einziges Chaos erschien, zum Frühstück vorbeikam und einfach bei ihr blieb, als hätte sie Angst, Selene könnte sonst eine Dummheit anstellen – es gab unzählige Momente, in denen Julia Selenes Engel war und die nahende Dunkelheit wieder in die Ferne drängte. In denen sie mit einem Lachen, einem Augenzwinkern oder einer Tasse Kaffee die Macht besaß, all das Schlechte in Selene zu besänftigen.
Ihre Sicht verschwamm, als sie Julia beim Hantieren zusah. Selene blinzelte die Tränen fort und senkte den Kopf, damit ihre Freundin keinen Verdacht schöpfte. Unmöglich! Julia drehte sich herum, hielt inne und legte den Kopf schief, während sie Selene musterte.
„Hmm?“, fragte diese, als sie den Mut fand, wieder aufzublicken.
„Ach Süße, du machst mich schwach“, seufzte Julia, beließ es aber dabei. „Jetzt gibt’s erst mal ’was für den Magen.“
Selene bekam einen
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