SEELENGOLD - Die Chroniken der Akkadier (Gesamtausgabe)
Grund für sie sein, drinnen zu bleiben.
„Das ist schön. Dann kann ich einen Spaziergang machen“, entgegnete sie und wunderte sich über die Härte in ihrer Stimme.
Er wirkte irritiert. Selene hatte ihn wohl soeben daran erinnert, dass sie ohne Probleme ans Tageslicht gehen konnte. Sie waren verschieden. Das hatten beide in den letzten Stunden verdrängt.
„Okay … Aber du bleibst im Garten hinter der Burg.“
„Was soll mir denn hier passieren? Ich denke, Avenstone kann nicht gefunden werden? Also werde ich doch unbeschwert ein paar Schritte gehen können.“
Rovens Kiefer spannte sich wieder an. „Durch die Bibliothek gelangst du zum Hinterausgang.“
„Danke.“
Er nahm ihr das Tablett ab und stand auf. Selene warf die Decke beiseite, wohl wissend, dass sie vollkommen nackt war. Sie überspielte ihre Unsicherheit, so gut sie konnte, und ging durch die Verbindungstür in ihr angrenzendes Zimmer, nicht ohne seinen Blick auf ihrem Körper zu spüren.
Nebenan durchsuchte sie ihre Tasche nach einer Jeans und einem warmen Pullover. Während sie frische Unterwäsche anzog, hörte sie, wie er das Tablett abstellte und näher kam.
Roven lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust, wie Selene es schon so oft an ihm gesehen hatte. Doch dieses Mal wirkte er nicht stolz oder gefährlich, sondern unsicher.
„Es sind noch zwei weitere Akkadier hier. Ju, aus Tibet, und Jafar, ein Araber. Sie werden die nächsten Tage auf Avenstone verbringen. Und mir wäre wohler, wenn du dich nicht in ihrer Nähe aufhältst.“
Selene streifte ihre Winterjacke über und zog sich die Stiefel an. „Ich werd’s versuchen.“ Sie sagte es mehr, um ihn zu beruhigen, nicht weil sie überzeugt war, jemandem aus dem Weg gehen zu können, von dem sie nicht einmal wusste, wo er sich aufhielt.
„Bis nachher.“ Sie drehte sich in der Tür zum Flur noch einmal um.
Roven nickte nur und sein Blick brach ihr fast das Herz.
Irgendetwas ging hier gerade schief. Es wirkte wie ein Abschied. Dabei sollte es das gar nicht. Selene wusste nicht, woher die düstere Stimmung zwischen ihnen plötzlich rührte. Sie brauchte nur etwas Zeit für sich. Das konnte doch nicht zu viel verlangt sein, oder?
Selene schloss die Tür, ging den Weg zur Treppe und die Stufen hinab. Die Burg war ruhig, fast beängstigend still. In der Eingangshalle lief ihr Adam über den Weg.
„Hallo Selene. Wie geht es Ihnen?“ Er verbeugte sich lächelnd.
„Gut, gut, Adam. Danke.“ Selene lief weiter.
„Sie gehen nach draußen? Darf ich Ihnen einen Tee bringen, oder etwas anderes zum Warmhalten?“
„Nein, vielen Dank.“ Sie winkte ab. „So lange bleibe ich nicht.“
Und noch eine Verbeugung von dem Butler.
In der Bibliothek war es stockfinster. Ohne Ausblick auf die malerische Landschaft, wirkte der Raum gewöhnlicher als in ihrer Erinnerung.
Im hinteren Bereich fand Selene eine Tür, öffnete sie und trat in einen kleinen Flur hinaus, der weiter Richtung Hof führte. Die Tür am Ende des Ganges enthielt bunte Glasscheiben, durch die grelles Tageslicht drang.
Selene berührte die eiserne Klinke, drückte sie nach unten und wurde von frischer Winterluft begrüßt. Sie atmete tief ein und ließ die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmen.
Hinter der Burg befand sich tatsächlich ein Garten. Und er sah weniger verwüstet aus, als sie es erwartet hätte. Die kleine Anlage glich einem Hof, der von den Mauern Avenstones eingezäunt wurde. In seiner Mitte ragte eine alte Birke auf, die nur noch wenige, rotgoldene Blätter besaß, und von einem mit unförmigen Steinen gepflasterten Weg eingerahmt wurde. Jeder Stöckelschuh würde hier den Geist aufgeben. Wilde Blumen und Sträucher grenzten nach außen an und erklommen die Mauern.
Selene ging drei Stufen hinunter und schlenderte den Weg entlang. Sie nahm auf einer der Bänke gegenüber der Birke Platz und sah in den wolkenlosen Himmel. Er hatte kein reines Blau, war leicht getrübt.
Von der Birke löste sich ein weiteres Blatt. Der Wind trug es fort. Bis Selene es nicht mehr sehen konnte.
Möchte ich diesem Blatt folgen?
Sie musste sich entscheiden.
Selene war kein gewöhnlicher Mensch. Zumindest ließ ihre sogenannte Gabe darauf schließen. Sie hatte ihre Mutter verloren, war ins Koma gefallen und in ihrer eigenen Wohnung angegriffen und beinahe getötet worden.
Sie sollte schockiert sein, angsterfüllt. Doch es ging ihr relativ gut. Sie konnte diese ganzen Ereignisse
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