Seelengrab (German Edition)
Kirchhoff sich weiter über den Leiter der Kriminalinspektion 1 auslassen konnte, klingelte Hirschfelds Telefon.
„Ja?“, meldete er sich.
„Lutz? Hier spricht Stein.“
„Ach, hallo, Herr Professor. Schön von Ihnen zu hören.“
„Ich dachte, ich informiere Sie persönlich. Der toxikologische Befund von Susanne Bach liegt vor. Ich habe Ihnen den Bericht gerade per E-Mail zugeschickt.“
„Vielen Dank“, antwortete Hirschfeld und fuhr seinen Computer hoch. „Einen Moment, ich rufe sofort meine Nachrichten ab.“
„Gut, das wichtigste Ergebnis kann ich vielleicht schon einmal vorwegnehmen: Die junge Frau wurde mit Gamma-Hydroxybutyrat respektive Gamma-Hydroxybuttersäure betäubt.“
Hirschfeld versuchte, das Wort auf seine Schreibtischunterlage zu kritzeln, während das Betriebssystem startete.
„Könnten Sie das noch einmal wiederholen?“
„Ja, vereinfacht gesagt: Es handelt sich um einen Wirkstoff in Medikamenten, die bei Schlafstörungen und Depressionen verschrieben werden. Er kommt auch in K.-o.-Tropfen vor, in der Szene sind diese als ‚Liquid Acid‘ im Umlauf.“
„Verstehe“, erwiderte Hirschfeld und strich seine Notiz durch. „Soweit ich weiß, ist dieser Wirkstoff nur sehr schwer nachweisbar.“
„Das ist richtig, nur etwa sechs Stunden im Blut und bis zu zwölf Stunden im Urin. Die genaue Dosis kann ich leider nicht angeben. Vielleicht nur so viel: Bei 0,5 bis 1,5 Gramm tritt Euphorie oder Entspannung ein. Bei 1 bis 2,5 Gramm wird die Hemmschwelle gesenkt und ein rauschhafter Zustand tritt ein. Ab 2,5 Gramm können Halluzinationen auftreten, ab 5 Gramm kann es zu Tiefschlaf bis hin zu Atemstillstand kommen.“
Hirschfeld versuchte, sich auf die Zahlen zu konzentrieren, aber hinter seinen Schläfen verspürte er einen pochenden Schmerz. In diesem Moment fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, die Kopfschmerztabletten, die Kirchhoff ihm überlassen hatte, zu nehmen.
„Das heißt, dass eine falsche Dosierung zum Tod führen kann.“
Der Desktop hatte sich aufgebaut. Hirschfeld öffnete sein Outlook und rief seine E-Mails ab.
„Korrekt. Als Todesursache kommt GHB jedoch nicht in Frage, wie ich bereits bei der Obduktion festgestellt habe.“
Die Nachricht von Professor Stein erschien in der obersten Reihe. Hirschfeld öffnete sie und klickte auf den Anhang. Innerhalb weniger Sekunden erschien der toxikologische Bericht auf dem Bildschirm.
„Das Betäubungsmittel wurde demnach nur eingesetzt, um das Mädchen unter Kontrolle zu bringen“, stellte er fest und scrollte sich durch das Dokument.
„Ja. Ursprünglich ist GHB ein körpereigener Stoff, der im Gehirn den Wach- und Schlafrhythmus steuert. Inzwischen wird GHB selbstverständlich synthetisch hergestellt. Ich vermute, dass die junge Frau über einen längeren Zeitraum mehrere Dosen verabreicht bekommen hat.“
Das deckte sich mit ihren Ermittlungen. Bis der Täter seine Opfer tötete, vergingen nach den Obduktionsergebnissen und den Zeugenaussagen etwa fünf bis sechs Tage.
„Gut, das hilft uns weiter. Danke, dass Sie mich persönlich ins Bild gesetzt haben.“
„Keine Ursache. Wir hören uns.“
Damit verabschiedete sich Professor Stein. Als Hirschfeld wieder aufgelegt hatte, fragte Kirchhoff:
„Und?“
„Der Täter hat Susanne Bach mit einem Sedativum betäubt, das ähnlich wirkt wie K.-o.-Tropfen.“
„Das Zeug wird doch meistens bei Sexual- und Eigentumsdelikten eingesetzt“, meinte Kirchhoff.
Sein Partner hatte Recht. Die Zahl der Vergewaltigungen, die unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen erfolgten, war in den letzten Jahren deutlich angestiegen, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.
„Ja, aber bei unseren Opfern konnten keinerlei Anzeichen von sexuellen Handlungen festgestellt werden. Dazu müssten wir noch mal Winkler befragen.“
„Apropos Jörg Winkler: Beus hat heute Morgen einen richterlichen Beschluss erwirkt, sodass er eine DNA-Probe abgeben muss.“
„Gut. Dann wissen wir ja bald mehr.“
Hirschfeld verschränkte die Arme hinter dem Kopf, legte die Füße auf die Tischkante und schloss die Augen. Als jemand die Tür zu ihrem Büro aufriss, zuckte er zusammen.
„Die Morgenbesprechung wird vorverlegt“, sagte Jens Schröder atemlos. „Wir haben ein drittes Opfer!“
65
Marie Reichert. Jede einzelne Silbe dröhnte in Hirschfelds Kopf. Die 30-köpfige Mordkommission hatte sich im Besprechungsraum des KK 11 eingefunden. Die Beamten saßen dicht gedrängt an den
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