Seelengrab (German Edition)
Konferenztischen. Jens Schröder stand an der Stirnseite und machte eine Handbewegung, als wollte er den Nachhall seiner Worte einfangen. Die Männer schwiegen betroffen. Jeder hoffte, dass das Gesagte ungeschehen gemacht werden könnte.
Doch die Fakten sprachen für sich: Marie Reichert war an diesem Morgen von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden. Dem Foto nach zu urteilen, das auf die Leinwand hinter Schröder projiziert wurde, entsprach die junge Frau ohne jeden Zweifel dem Opfertypus. Sie hatte glattes dunkelblondes Haar, das ihr bis über die Schultern reichte, ein ovales Gesicht und eine sportliche Figur. Ihre Heterochromie war besonders ausgeprägt. Das linke Auge war smaragdgrün, das rechte tiefblau.
„Marie ist erst 19 Jahre alt“, sagte Schröder in die Stille und verwendete bewusst die Gegenwartsform. Er war immer noch erkältet. „Sie hat eine Klasse übersprungen und letztes Jahr bereits ihr Abitur gemacht. Marie hat ein freiwilliges soziales Jahr in Südkorea absolviert und ist vor drei Wochen nach Deutschland zurückgekehrt“, fuhr er fort. „Sie hat in einem Waisenhaus gearbeitet und Kinder und Jugendliche im Alter von 1 bis 20 Jahren betreut. Ihre Aufgabe war es außerdem, den Waisen je nach Altersstufe Englisch beizubringen. Marie wurde von ihren Eltern als hilfsbereit und kontaktfreudig beschrieben.“
Christian Hellmann, der, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, wieder einen der vorderen Plätze belegte, schrieb eifrig mit, während die meisten Beamten konzentriert zuhörten.
„Marie stammt aus Bergisch Gladbach, wo auch ihre Eltern leben. Sie selbst ist erst letzte Woche in ein möbliertes Zimmer in Dottendorf gezogen, da sie einen Praktikumsplatz bei der Deutschen Welle bekommen hat. Sie hätte heute dort anfangen sollen. Als Marie nicht erschienen ist, informierte man die Eltern.“
„Wann wurde sie zum letzten Mal gesehen?“, hob Hellmann den Zeigefinger. In der Schule hatte er sicher zu den Schnipsern gehört, schoss es Hirschfeld durch den Kopf.
„Ihre Vermieterin, eine ältere Dame namens“, Schröder schaute auf seine Notizen, „namens Inge Wolters hat sie am Sonntag im Hausflur getroffen. Die beiden haben sich kurz miteinander unterhalten. Marie hat ihr erzählt, dass sie sich die Innenstadt ansehen wollte. Danach verliert sich ihre Spur. Ich werde schnellstmöglich eine Pressemitteilung aufsetzen. Vielleicht hat jemand Marie nach der Unterhaltung mit Frau Wolters noch irgendwo gesehen.“
„Verstehe ich das richtig, dass Marie vor dem Antritt ihrer Praktikumsstelle keine Verabredung oder einen anderen Termin hatte?“, wollte Kirchhoff wissen.
„Nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht“, antwortete Jens Schröder und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischkante. „Marie war neu in der Stadt und bereitete sich auf ihr Praktikum vor. Mit ihren Eltern hat sie zuletzt am Samstag telefoniert. Da schien alles in Ordnung mit ihr zu sein.“
Der Leiter der Mordkommission hielt für einen Moment inne, dann richtete er sich auf und begann, vor der Fensterfront auf und ab zu gehen.
„Wir sollten uns noch einmal näher mit der Viktimologie beschäftigen“, sagte er langsam, als denke er nur laut. „Bisher fehlt uns jegliches Motiv für die Wahl der Opfer. Bei Lena Zimmermann und Susanne Bach hat der Täter keine sexuellen Handlungen vorgenommen. Die Obduktionsberichte legen das nahe. Zwischen den drei jungen Frauen gibt es, soweit wir bis jetzt wissen, keinerlei Verbindung. Das einzige Merkmal, das sie verbindet, ist ihr Äußeres. Von Statur und vom Typ ähneln sie sich, doch das markanteste Merkmal scheint die Zweifarbigkeit ihrer Augen zu sein. Wie wir recherchiert haben, tritt dieses Phänomen im Gegensatz zum Tierreich recht selten beim Menschen auf. Der Täter ist demnach offenbar auf die Heterochromie fixiert.“
„Vielleicht haben wir es mit einem chiffrierten Serienmord zu tun“, warf Hirschfeld ein.
Nicken in der Runde.
„Die steigende Zahl der Opfer spricht zumindest dafür. Bei dieser speziellen Art von Serienmorden lassen die Tatbegehungsweise und die Persönlichkeit der Opfer keinerlei Rückschlüsse auf das Motiv zu“, führte er seinen Gedanken aus. „Vielleicht sieht der Täter in den jungen Frauen eine Person, gegen die er einen ausgeprägten Hass empfindet, den er jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht direkt gegen den verhassten Menschen richten kann. Dies könnte eine Autoritätsperson sein, das heißt, der Täter hat
Weitere Kostenlose Bücher