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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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»Ich wollte ihm glauben, aber er hat gelogen.«
    Calder ging neben ihr in die Hocke und stützte ein Knie auf den Boden. »Wenn ich ehrlich bin«, fragte er, »wirst du mir dann zuhören?« Angst blitzte in ihren Augen auf, doch sie nickte zustimmend. Ana wappnete sich sichtlich gegen das, was da kommen würde, und atmete tief durch. »Du bist wunderhübsch«, sagte er. »Mit oder ohne Haare, und du hast die größte Liebe auf Erden oder im Himmel verdient.«
    Sie schauderte, Tränen stiegen ihr in die Augen. Er nahm die Schere aus dem Waschbecken und beugte ihren Kopf sanft nach vorne. Dann versuchte er, die verschieden langen Strähnen anzugleichen.
    »Hoffnungslos«, sagte Alexis kopfschüttelnd, der in der Badezimmertür aufgetaucht war.
    »Kannst du es besser?«, fragte Calder.
    »Natürlich.«
    Der Junge wischte Ana die Härchen von der Schulter und legte ihr eines der fadenscheinigen Hotelhandtücher um. Calder ließ eine Hand in das Waschbecken gleiten und nahm verstohlen eine Locke heraus, die er in seiner Hosentasche versteckte. Irgendwo im Hotel begann jemand zu singen. Die zwei Stimmen zögerten, lachten und fanden sich erneut in einer bäuerlichen Melodie – Italienisch vielleicht, doch die Worte waren zu gedämpft, um sie zu verstehen.
    Anas Tränen trockneten, und nachdem Alexis sein Werk abgeschlossen und Calder die letzten Strähnen in den Mülleimer geworfen hatte, lächelte sie. Als sie aufstand und in den Spiegel sah, zuckte sie zurück. »Ach du meine …«
    »Es ist …« Calder erkannte zu spät, dass ihm die Worte fehlten, um Mode zu beschreiben.
    »Es ist modern«, sagte Alexis, und Ana lachte fröhlich.
    Sie setzten sich alle auf das Bett, lehnten sich an die Wand, Ana in der Mitte, Alexis beim offenen Fenster, vor dem entferntes Donnergrollen zu hören war. Calder hatte einen Stuhl herangezogen, doch Ana forderte ihn auf, sich neben sie auf die Matratze zu setzen.
    »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie. »Wir …«
    Alexis unterbrach sie: »Lass uns erst morgen wieder darüber nachdenken.«
    Zuerst lehnten die beiden mit ineinander verschränkten Händen aneinander. Doch als sich zu dem Gesang aus dem anderen Zimmer eine dritte Stimme gesellte und ein Schlaflied erklang, legte sich der Junge auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ana rutschte näher an Calder heran, damit ihr Bruder mehr Platz hatte.
    Er war sich nur zu deutlich bewusst, wie ihre Schulter gegen seine drückte, wie ihr Kopf, flaumig wie der eines Kükens, unter seinem Kinn ruhte. Kurz darauf rollte Alexis sich schlafend auf die Seite und drehte ihnen den Rücken zu. Auf einmal spürte Calder, wie Anas Finger zwischen seine glitten. Es war keine Geste unter Erwachsenen, sondern pure Gewohnheit. Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen so selbstverständlich, als wären sie Geschwister. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie wach war. Wenn sie schlief, wollte er sie nicht wecken, und wenn sie wach war, wollte er auf keinen Fall, dass sie dachte, er würde die Situation ausnutzen. Deshalb unterdrückte er den Wunsch, ihre Hand an seine Lippen zu heben und ihre Finger zu küssen.
    »Fluss der Steine«, murmelte sie.
    Er dachte zuerst, sie würde ihn damit ansprechen. »Ja?«
    »Das ist ein trauriger Name.«
    »Warum?«
    »Weil das Wasser in einem Fluss schnell fließt und frei ist, und die Steine liegen kalt und still darunter, als ob sie von großer Sorge nach unten gedrückt würden.«
    Ihre Vorstellung war kindlich, doch eine gewisse Wahrheit darin ließ seine Brust eng werden.
    »Weißt du, was mein Name bedeutet?«, fragte Ana leise.
    »Nein.«
    »Auferstehung«, sagte sie. »Anastasia heißt Auferstehung.«
    »Das ist wunderschön.«
    »Wäre sicher ein guter Name für eine Begleiterin.«
    Ana drängte sich näher an ihn, als ob sie die Atemgeräusche und Bewegungen eines geliebten Menschen vermisste. Calders Ängste verschwanden, und eine unerwartete Ruhe überkam ihn.
    Ich werde wach bleiben,
sagte er sich.
Ich werde wach bleiben und über sie wachen.
    Wahrscheinlich schlief er gerade deswegen ein.
    * * *
    Es war so dunkel, dass Calder nur an dem schwachen Licht der Straßenlaternen erkannte, dass er die Welt durch die Augen einer verlorenen Seele wahrnahm. Er war nicht allein.
    »Haben Sie meinen Jungen gesehen?« Die Stimme war tief und heiser, das dazugehörige Gesicht war von Sorge zerfurcht und wirkte vertraut. Neben ihm am Bett stand ein Matrose, dessen Alter schwer zu schätzen

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