Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
mehreren Stellen bröckelte der Putz ab und aus den Blumenkästen vor den beiden Fenstern ragten immer noch die inzwischen vertrockneten Sommerblumen vom Vorjahr. Vielleicht waren sie aber auch schon ein paar Jahre alt. So genau konnte man das nicht sagen.
Hier wohnte Irene Vossen also, die Mutter ihrer Klientin und der toten Saskia Christensen, dachte Suna. Linda hatte sie schon vorgewarnt, dass die Gegend nicht unbedingt einladend war, doch das war eine ziemliche Untertreibung gewesen. Hanseatisches Understatement sozusagen.
Als die Privatermittlerin auf das Haus zuging, sah sie, dass es doch mit dem Auto zu erreichen war, allerdings nicht von der Straße aus, auf der sie geparkt hatte. Von einer kleinen Nebenstraße führte eine schmale Zufahrt zur Garage, die direkt ans Haus gebaut war und dessen Verfall in nichts nachstand. Dahinter musste ein Generator stehen. Das leise, monotone Brummen war deutlich zu hören.
Suna ging auf die Haustür zu und sah auf das Klingelschild. Irene Vossen stand wie erwartet in verblichenen Buchstaben darauf.
Bevor sie auf den vergilbten Klingelknopf drückte, warf sie noch einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie waren für zehn Uhr verabredet, und trotz ihrer Suchaktion war Suna beinahe noch pünktlich.
Irene Vossen hatte sich zuerst nicht besonders begeistert gezeigt, als Suna am Telefon einen Termin mit ihr ausmachen wollte. Sie verstand das gut. An ihrer Stelle wäre sie auch nicht besonders erpicht darauf gewesen, mit einer Fremden über den Tod der eigenen Tochter zu sprechen. Es hatte sie einige Überzeugungskraft gekostet, sie umzustimmen. Schließlich hatte Irene aber doch eingewilligt, sich mit Suna zu treffen.
Suna drückte auf die Klingel. Im Inneren des Hauses hörte sie deutlich den typisch rasselnden Ton, den viele alte Türklingeln haben, aber sonst blieb alles still. Sie wartete und lauschte. Bis auf das Gezwitscher der Vögel und das Brummen des Generators war nur das Rauschen der nahegelegenen Autobahn zu hören.
Wieder drückte sie auf den Klingelknopf, diesmal länger, energischer. Außerdem klopfte sie kräftig gegen die Tür.
»Frau Vossen?«, rief sie. »Sind Sie da?«
Nichts. Weder sich nähernde Schritte waren zu vernehmen noch irgendwelche anderen Geräusche, die aus dem Haus drangen.
Suna verzog missmutig das Gesicht. Zwar konnte sie sich die Zeit, die sie für die Fahrt hierher gebraucht hatte, von Linda Vossen bezahlen lassen, aber sie mochte es ganz und gar nicht, versetzt zu werden. Schon gar nicht an einem Sonntag.
Noch einmal klingelte Suna, hatte aber eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben, dass ihr doch noch jemand die Tür öffnen würde. Sie hatte lange genug gewartet. So groß war das Haus nicht, dass man lange brauchte, um zur Haustür zu gehen. Und die laute Klingel hätte auch jeden aus dem Tiefschlaf geholt, da war sie ganz sicher. Dass Irene Vossen sie nicht hörte, war daher sehr unwahrscheinlich.
Doch da sie jetzt schon mal hier war, wollte Suna wenigstens sichergehen, dass die Mutter ihrer Klientin wirklich nicht zuhause war. Sie machte zwei kurze Schritte und stand schon vor einem der Fenster auf dieser Hausseite. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an die Scheibe, schirmte das helle Sonnenlicht mit beiden Händen ab und versuchte, ins Haus zu sehen.
Bei dem Raum handelte es sich offensichtlich um die Küche. Die Einrichtung war altmodisch, aber immerhin nicht ganz so heruntergekommen wie das Äußere des Hauses, und das Zimmer wirkte einigermaßen ordentlich.
Plötzlich jedoch stutzte Suna. Auf dem winzigen Küchentisch stand eine angebrochene Wodkaflasche neben einem großen Wasserglas. Sofort schrillten in ihrem Kopf alle Alarmglocken. Linda hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter schon seit Jahren mit einem ausgeprägten Alkoholproblem kämpfte. Vielleicht hatte der Tod ihrer Tochter ihr doch stärker zugesetzt, als es bei dem Telefonat am Vortag den Anschein gehabt hatte.
Das war nicht gut. Das war gar nicht gut!
Vor ihrem inneren Auge sah Suna die Frau schon irgendwo im Haus liegen, völlig betrunken, vielleicht sogar mit einer Alkoholvergiftung.
Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei dem anderen Fenster und versuchte dort ebenfalls hineinzusehen, doch leider waren die Vorhänge zugezogen. Der Spalt dazwischen war nicht breit genug, um etwas im Inneren erkennen zu können.
An der linken Hausseite schloss direkt ein hoher Bretterzaun an, also blieb Suna nur die Möglichkeit, um die Garage herumzulaufen,
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