Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)

Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)

Titel: Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Wassermann
Vom Netzwerk:
Bemerkung klingen musste.
    Linda lehnte sich zurück und musterte die Privatdetektivin nachdenklich. Sie wirkte distanziert, beinahe schon unterkühlt, als sie die Beine übereinanderschlug und ihre langen blonden Haare zurückstrich.
    Wieder fiel Suna die Ähnlichkeit zu ihrer Schwester auf. Sie hatte von Saskia Christensen zwar nur Fotos gesehen – einerseits die Bilder der Toten aus der Ermittlungsakte, andererseits private Fotos, die Linda ihr überlassen hatte – aber die Schwestern hatten unverkennbar die gleichen Gesichtszüge, auch wenn die von Saskia wesentlich feiner geschnitten waren als die ihrer jüngeren Schwester. Beide hatten einen sportlichen, athletischen Körperbau mit langen Armen und Beinen, und hätte Linda nicht die auffälligen, goldblonden langen Haare und ihre Schwester einen dunkelblonden Kurzhaarschnitt gehabt, hätte man die beiden schnell verwechseln können.
    Auch die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter war unbestreitbar, wie Suna jetzt feststellte. Obwohl sie Irene Vossen nur leblos und mit unnatürlicher Gesichtsfarbe gesehen hatte, schien sie eine ältere und zierlichere Ausgabe ihrer Töchter gewesen zu sein. Allerdings war Suna selbst in diesem Zustand aufgefallen, wie verbraucht und ausgezehrt die Frau gewirkt hatte. Hätte Suna ihr Alter nicht gekannt, hätte sie sie locker zehn bis fünfzehn Jahre älter geschätzt, als sie tatsächlich war.
    Vielleicht war das einer der Punkte, die sie nicht losließen. Die es ihr so schwer machten, die Geschehnisse des Vormittags zu verstehen. Selbst im Tod war der Frau noch anzusehen gewesen, dass sie zu Lebzeiten nicht glücklich gewesen war. Hatte sie deswegen beschlossen, nicht mehr weiterleben zu wollen? Aber wenn sie vorher schon so unglücklich gewesen war, warum hatte sie diesen Entschluss nicht schon früher gefasst? War wirklich Saskias Tod der Anlass gewesen, der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte?
    Suna fiel es schwer, die Beweggründe der Mutter ihrer Klientin nachzuvollziehen, aber vielleicht waren die Eindrücke auch einfach noch zu frisch. Immer wieder tauchten die Bilder vor Sunas innerem Auge auf, Irene Vossen, die auf dem Fahrersitz ihres Wagens zusammengesunken war; Irene Vossen, die neben ihr auf dem Boden der ungepflegten Garagenzufahrt lag, Irene Vossen, die vom Notarzt untersucht wurde, der nur noch den Kopf schüttelte und den Tod der Frau feststellte. So sehr sie sich auch bemühte, die Bilder abzuschütteln, ganz los wurde sie diese nicht. Sie musste sich zusammenreißen, um sich ganz auf Linda zu konzentrieren.
    Diese schien plötzlich eine ganz andere Person zu sein als die von Trauer gezeichnete Frau, die Suna vor wenigen Tagen in der Kanzlei ihres Exmanns kennengelernt hatte.
    »Da haben Sie sicherlich recht«, beantwortete Linda nach einer längeren Pause die Frage der Privatermittlerin. »Für Außenstehende muss es ziemlich befremdlich wirken, dass ich nicht einmal zu weinen anfange. Schließlich war Irene ja meine Mutter. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass ich eine gute Beziehung zu ihr hatte. Wissen Sie, viele Leute sagen, dass jemand für sie gestorben ist, wenn sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Aber bei mir und meiner Mutter war das nicht so. Wenn jemand gestorben ist, trauert man um ihn. Aber meine Mutter war einfach nicht mehr wichtig für mich. Ich habe nicht getrauert. Ich habe sie aus meinem Leben gestrichen, nicht mehr und nicht weniger.«
    Suna sah sie erstaunt an. Dass ein relativ junger Mensch, der bis vor ein paar Jahren noch bei der Mutter gelebt hatte, so sachlich über zerstörte Familienbeziehungen sprach, hatte sie bisher noch nicht erlebt. »Gab es irgendeinen Anlass für Ihr Zerwürfnis?«, fragte sie behutsam.
    »Keinen konkreten.«
    Linda stand auf, trat ans Fenster und starrte hinaus. Ihr kleines, aber stilvoll eingerichtetes Apartment lag im zweiten Stock eines schicken Neubaus in der Nähe der Universität. Davor erstreckte sich eine parkähnliche Grünfläche. Suna wusste, dass sie in einer Agentur für Marketing und PR arbeitete. Sie musste in ihrem Job recht gut verdienen, wenn sie sich solch eine Wohnung leisten konnte. Ihre Schwester hatte im gleichen Haus gewohnt, allerdings in der viel größeren Dachgeschosswohnung, zusammen mit ihrem Mann.
    Suna schwieg eine Weile. Sie ließ ihrer Klientin Zeit, sich zu sammeln.
    »Mein Vater ist ausgezogen, als ich noch ganz klein war«, begann Linda nach ein paar Minuten stockend zu erzählen.

Weitere Kostenlose Bücher