Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
kein Problem gewesen, die richtige Straße zu finden, nur das Haus – die Nummer 113 – schien von der Erdoberfläche verschwunden zu sein. Eigentlich sollte man es gar nicht übersehen können, denn es musste weit und breit das einzige Wohnhaus sein, zumindest wenn man davon ausging, dass niemand in den Werkstätten, Schuppen und Lagerhallen wohnte, die beide Seiten der Straße säumten.
Suna fragte sich ohnehin, was einen Menschen dazu brachte, ausgerechnet in ein Gewerbegebiet zu ziehen, in dem sonst anscheinend niemand wohnte. Aber vielleicht war ja gerade das der Grund: viel Privatsphäre, erkauft durch eine hässliche Umgebung.
Zum dritten Mal fuhr sie jetzt im Schneckentempo die angegebene Straße entlang und hielt krampfhaft nach einem Gebäude Ausschau, in dem sich jemand häuslich eingerichtet haben könnte.
Dummerweise hatten die Besitzer der Hallen und Werkstätten es nicht für nötig gehalten, Hausnummern anzubringen, an denen sie sich hätte orientieren können. Irgendwo hatte sie die Nummer 83 gesehen, aber wirklich weitergeholfen hatte ihr das auch nicht.
Außerdem war jetzt, am Sonntagvormittag, der Stadtteil wie ausgestorben. Suna entdeckte niemanden, den sie nach dem Weg fragen konnte. Sie zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. Selbst schuld, dachte sie mit einem Achselzucken.
Warum hatte sie bloß nicht auf ihr Gefühl gehört und den Auftrag abgelehnt? Dann hätte sie sich jetzt mit ihrer Freundin Rebecca ein schönes, ausgedehntes Frühstück in einem Café in der Altstadt gönnen können, anstatt in ihrem Auto durch ein menschenleeres Viertel zu geistern.
Drei Tage war es jetzt her, dass sie den Auftrag, Saskia Christensens Tod zu untersuchen, angenommen hatte. Drei Tage, in denen Suna kein bisschen weitergekommen war. Sie hatte ein paar Gespräche geführt, im Internet recherchiert, einige Angaben überprüft und den Polizeibericht über Saskias Tod gelesen, den ihr Robert organisiert hatte. Aber neue Hinweise hatten sich daraus nicht ergeben.
Bei dem Gedanken daran seufzte sie auf. Sie hoffte sehr, dass sie es trotzdem schaffte, Linda zu helfen. Vielleicht brachte sie ja das heutige Gespräch etwas weiter, vorausgesetzt, sie fand das Haus, das sie suchte, überhaupt noch.
Immerhin hatte sich ihre Stimmung inzwischen ein wenig aufgehellt. Dazu trug vor allem das kleine Schild bei, das sie gerade am Straßenrand entdeckt hatte. Es war ein weißer Plastikpfeil, der auf der Spitze eines dünnen Aluminiumpfahls befestigt war. Dieser war anscheinend schon häufiger Opfer von Wendemanövern aus der Einfahrt gegenüber geworden, jedenfalls steckte er schräg im Schotter und sah aus, als würde das Gewicht einer landenden Hummel ausreichen, um ihn endgültig umfallen zu lassen.
Die verblichenen, ehemals schwarzen Ziffern auf dem Schild wiesen darauf hin, dass Haus 113 über einen kleinen Weg zu erreichen war, der zwischen zwei Maschendrahtzäunen hindurch führte.
»Kein Wunder, dass ich das vorher übersehen habe«, murrte Suna ungnädig. »Ein bisschen auffälliger hätte man das ja ruhig gestalten können, wenn man sich schon die Arbeit macht, überhaupt ein Schild aufzustellen.«
Trotzdem war sie erleichtert, dass die Suche zu Ende war. Sie stoppte am Straßenrand und stieg aus ihrem Wagen. Eine autotaugliche Zufahrt zu dem Haus schien nicht zu existieren, daher machte sie sich zu Fuß auf den Weg zu dem Wohnhaus.
Das Grundstück, das zu ihrer Linken lag, schien schon lange brach zu liegen. Es war mit Brombeeren, ausladenden Sträuchern und jeder Menge Unkraut überwuchert. Dazwischen lag achtlos weggeworfener Müll, und in den Zweigen und Ranken hatten sich Plastiktüten verfangen.
Doch es sah immer noch besser aus als das Grundstück auf der rechten Seite. Eine schäbige Lagerhalle mit schief in den Angeln hängendem Tor wurde umringt von wahllos abgestelltem Sperrmüll. Kaputte Pressspanmöbel verrotteten neben alten Waschmaschinen, einem halb zerlegten VW-Käfer und unzähligen Fässern und Kisten. Nur ein paar inzwischen verwilderte Narzissen, die ein unverbesserlicher Optimist ein paar Jahre zuvor gesetzt haben musste, trotzten der trostlosen Umgebung ein wenig Schönheit ab.
Das kleine Wohnhaus, das hinter der Lagerhalle in Sunas Blickfeld auftauchte, fügte sich gut in die Umgebung ein. Es war deutlich kleiner als die Halle, wirkte aber genauso heruntergekommen und ungepflegt. Die gesamte vordere Fassade wurde von einem bedrohlich aussehenden Riss durchzogen, an
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