Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
so, wie es hier aussieht, werde ich wohl auch noch eine ganze Weile bleiben.«
*
Eine knappe halbe Stunde später erreichte Suna das Gewerbegebiet, in dem Irene Vossen gewohnt hatte. Im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch am Sonntag hingen diesmal schwere graue Wolken am Himmel. Es regnete zwar noch nicht, aber es wirkte so, als würde es den ganzen Tag nicht richtig hell werden. In dieser Atmosphäre wirkte die Gegend noch trostloser als bei Sonnenschein.
Als Suna über den schmalen Fußweg auf das kleine Wohnhaus zuging, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Deutlich stand ihr noch das Bild der zierlichen, verlebt aussehenden Frau vor Augen, die zusammengesackt auf dem Fahrersitz ihres Wagens hing. Dabei waren es vor allem die seltsam entspannt wirkenden Gesichtszüge, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekam.
Obwohl die Tür offenstand, wirkte das kleine Haus von Irene Vossen düster und wenig einladend. Im Vorgarten stapelten sich etliche Kartons. Offensichtlich war Linda Vossen schon eine ganze Weile mit der Entrümpelung beschäftigt.
Den Blick zur Garage versuchte Suna zu vermeiden. Die Erinnerung an den Sonntagvormittag war ohnehin fast noch zu präsent.
Sie trat in die offene Tür und blieb stehen. Linda wusste zwar, dass sie kommen wollte, aber trotzdem widerstrebte es ihr, einfach hineinzugehen. Also klopfte sie an die Holztür.
»Hallo, Frau Vossen? Sind sie da?«, rief sie.
»Ich bin hier hinten«, kam Lindas Stimme aus dem einzigen Raum im hinteren Teil des Gebäudes. »Kommen Sie einfach durch.«
Suna folgte der Anweisung und betrat ein kleines Wohnzimmer. Es war spärlich möbliert, noch dazu hatten die wenigen Möbel höchstens noch Sperrmüllqualität. Suna fiel auf, dass das Haus von innen beinahe noch kleiner und beengter wirkte als von außen. Es konnte kaum größer sein als die direkt angebaute Garage.
Im Wohnzimmer standen ein kleiner Holztisch mit vier nicht dazu passenden Stühlen, ein Fernseher und davor ein Zweisitzer-Sofa. Der einzige Schrank im Raum war eine halbhohe Kommode, die allerdings bis obenhin vollgestopft war, wie Suna durch eine offenstehende Tür erkennen konnte.
Ihre Klientin saß am Esstisch und hatte mehrere Fotoalben vor sich ausgebreitet. »Ich schwelge gerade in Erinnerungen«, meinte sie in sarkastischem Tonfall, als sie Suna erkannte.
Sie wies auf eines der Bilder, das ein anscheinend harmonisches Paar zeigte. Der große, schlanke Mann hatte ein Mädchen mit strohblonden Zöpfen an der Hand, die zierliche Frau an seiner Seite hielt ein in eine rosafarbene Decke gehülltes Baby im Arm. Beide lächelten glücklich.
»Ein Bild aus besseren Zeiten«, kommentierte Linda spöttisch. »Nur schade, dass ich mich nicht mehr an die Heile-Welt-Familie erinnern kann. Solange ich denken kann, waren meine Eltern getrennt und meine Mutter ein seelisches Wrack.«
»Was war eigentlich mit Ihrem Vater?«, fragte Suna behutsam. Sie hätte das Thema nicht angesprochen, weil Linda ohnehin so verletzt und niedergeschlagen wirkte. Aber da sie jetzt selbst angefangen hatte, von ihrer Familie zu sprechen, wagte sie sich etwas vor. »Sie haben mir erzählt, dass Saskia ihn kurz vor seinem Tod mehrmals getroffen hat. Bei Ihnen hat er sich doch bestimmt auch gemeldet.«
Linda nahm das Fotoalbum in die Hand und starrte lange auf das Bild, bevor sie antwortete.
»Allerdings, das hat er. Es ging ihm schon ziemlich schlecht, als er Kontakt mit uns beiden aufgenommen hat. Es war bereits klar, dass die Therapie nicht anschlägt und der Krebs schon überall Metastasen gebildet hatte. Er wusste also, dass er bald sterben würde, daher wollte er alles »ins Reine bringen«, wie er uns gesagt hat. Saskia ist daraufhin ins Krankenhaus gefahren und hat ihn besucht. Sie hat nie über ihre Treffen mit ihm gesprochen, doch ich hatte den Eindruck, dass es ihr gutgetan hat, sich mit ihm zu versöhnen.«
Sie brach ab und starrte weiter auf das Bild ihrer Familie. An ihrer Miene war keine Gefühlsregung abzulesen.
»Aber Sie wollten das nicht?«, hakte Suna nach.
»Ich habe schon überlegt, mit ihm zu sprechen, aber ich konnte nicht.« Linda verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln, das viel Schmerz enthielt. »Es kam mir so« – wiederum stockte sie – »unaufrichtig vor, irgendwie heuchlerisch. Solange es ihm gutging, hat für ihn nur seine neue Familie gezählt. Nicht einmal zu Weihnachten oder zu unseren Geburtstagen hat er sich bei uns gemeldet. Als ich dreizehn oder vierzehn war, habe ich versucht,
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